Mittsommerzauber
Vielleicht hätte er nicht so viele auf einmal nehmen sollen. Doch es war irgendwie passiert, und jetzt war das Zeug in seinem Körper.
Das Röhrchen war leer. Diese Tatsache war ihm erst klar geworden, als er weitere Tabletten schlucken wollte, in der Hoffnung, dass sie ihm vielleicht auch gegen die Übelkeit helfen würden, die ihn immer wieder zum Würgen brachte. Vorhin hatte er versucht, sich zu übergeben, aber außer einem bisschen blasigen Schaums war nichts gekommen. Vermutlich hing das damit zusammen, dass er heute noch nichts gegessen hatte. Doch wer konnte schon essen bei so viel Stress?
Haralds Sehvermögen hatte sich getrübt, und laufen konnte er auch nicht mehr allzu gut, doch seine Ohren waren noch ausgezeichnet. Er hatte jedes Wort der Unterhaltung mitbekommen, die seine Mutter, nachdem sich Annas Verbleib aufgeklärt hatte, mit diesem schleimigen Kerl aus Kanada geführt hatte.
Silvia hatte ihm zuerst nicht zuhören wollen, doch dann hatte er sie gebeten, ihm nur eine Minute zu geben. Und sie hatte es getan.
Eine Minute! Harald lachte blechern. Die eine Minute hatte diesem Mistkerl gereicht! Am Ende hatte es ganz so ausgesehen, als hätte seine Mutter sich vom Gesülze des Burschen einwickeln lassen!
Schon seit einer Weile hätte er aus dem Job aussteigen wollen, hatte Mister Perfect behauptet, und als er hierher gekommen sei, habe er diesen Entschluss weiter durchdacht und gespürt, dass die Zeit reif sei, ein neues Leben anzufangen. So wahr ihm Gott helfe, er habe wirklich den Posten bei Blomquist haben wollen, und unter keinen Umständen hätte er zugelassen, dass Hartwood die Firma übernahm! Falls Sie ihm nicht glaube - sie könne das jederzeit überprüfen. Er habe bei Hartwood gekündigt.
Das war der Stand der Dinge. Silvia hatte nachdenklich ausgesehen, als sie ins Haus zurückgegangen war, und Mister Perfect war in seinen Wagen gestiegen, weil er nach Märraberg fahren wollte, um, wie er Silvia zum Abschied mitgeteilt hatte, ein Versäumnis nachzuholen.
Was auch immer er damit gemeint hatte - Harald zweifelte keinen Moment daran, dass dieser windige Lügner nicht zögern würde, seine ursprünglichen Pläne doch noch in die Tat umzusetzen. Und Harald hatte auch schon eine Ahnung, welches Werkzeug sich der Kerl auserkoren hatte. Anna. Er würde sie ebenso einwickeln wie Silvia, und als Nächstes würde er sich die Firma unter den Nagel reißen. Am Ende der sechs Monate, wahrscheinlich aber schon sehr viel früher, würde er an den Hebeln der Macht sitzen, und er, Harald, wäre für alle Zeiten ausgebootet.
Als er schwankend von der Bank aufstand, ahnte er vage, dass er sich zu viel zumutete. Vielleicht hatte Anna ja Recht, wenn sie sagte, dass er abhängig war. Doch sechs Monate waren lang genug, um seine Probleme aus der Welt zu räumen, und diese Zeit stand ihm verdammt noch mal zu.
Er musste den Kerl daran hindern, sich das Sägewerk anzueignen, und wenn es das Letzte war, was er tat! Seine Mutter würde erneut Grund haben, ihm dankbar zu sein, denn er würde ihr beweisen, dass sie sich wieder einmal getäuscht hatte.
Mühsam setzte er einen Fuß vor den anderen, und nachdem er eine Weile gegangen war, funktionierte es besser. Er erreichte den Wagen und schaffte es, einzusteigen und den Motor anzulassen.
Es war nicht so einfach, das Auto vom Hof auf die Straße zu lenken, doch auch das klappte schließlich. Auch das Weiterfahren kostete ihn einige Mühe, aber dafür war er sicher, dass er den Rest auch noch hinkriegen würde.
*
Anna war ziemlich schnell gefahren, weil sie nicht erwarten konnte, den Ort zu erreichen, wo sie den schönsten Tag ihres bisherigen Lebens verbracht hatte.
Sie stellte den Wagen in der Nähe des Gebirgsbachs ab, zog die Schuhe aus und watete ans andere Ufer.
An der Längswand der Hütte stand eine Bank, auf die sie sich setzte. Den Rücken gegen die warmen Holzbohlen gedrückt, genoss sie den Ausblick über die weiten Berghänge. Nach einer Weile schloss sie die Augen und begann, in ihren Erinnerungen zu schwelgen. Hier hatten sie sich geliebt, hatten einander in den Armen gehalten und geredet, bis der Morgen kam. Es war, als sei seither keinerlei Zeit verstrichen, so klar waren die Bilder in ihrem Bewusstsein. Vergangenheit und Gegenwart vereinten sich zu einem machtvollen Augenblick tiefen Empfindens, und aus ihrem Inneren stieg eine unabänderliche Gewissheit auf. Sie wusste plötzlich, dass es nur einen richtigen Weg für sie gab, und zum
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