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Mittsommerzauber

Mittsommerzauber

Titel: Mittsommerzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inga Lindström
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ihm bei jeder Bewegung durch die Wirbelsäule schossen. Er sagte sich, dass er schon Schlimmeres erlebt hatte. Damals vor zehn Jahren zum Beispiel, als er sich bei der Schur in die Hand geschnitten hatte und fast verblutet wäre bei dem Versuch, es lebendig in die Klinik zu schaffen. Oder noch früher, als er im Alter von neunzehn Jahren von diesem verrückten Bock auf die Hörner genommen worden war und dabei fast die Hoden verloren hatte. Das war ein Schmerz gewesen, der wahrlich nicht von schlechten Eltern war! Dagegen war das hier der reinste Spaziergang!
    Der Greis, den sie heute hier ins Zimmer geschafft hatten, war mehr tot als lebendig, den würde es nicht interessieren, wer in dieser Nacht noch kam oder ging. Gustav gab sich keine Mühe, sein Stöhnen zu unterdrücken, während er sich in eine sitzende Position hochkämpfte und die Beine aus dem Bett schob. Der Alte nebenan konnte ihn sowieso nicht hören, der war ohne sein Hörgerät taub.
    Gustav fühlte, wie ihm am ganzen Körper der Schweiß ausbrach, als er die Füße auf den Boden stellte. Wenn er saß, war der Schmerz kaum noch auszuhalten, doch er war davon überzeugt, dass es sich geben würde, wenn er erst eine Weile herumgelaufen war. Vorausgesetzt, er schaffte es, überhaupt aufzustehen.
    Das Linoleum war kalt unter seinen nackten Fußsohlen, aber das störte ihn nicht halb so sehr wie das alberne Nachthemd, in das sie ihn bei seiner Einlieferung gesteckt hatten und das er immer noch trug, weil kein Mensch sich die Mühe gemacht hatte, ihm einen vernünftigen Pyjama zu besorgen. Es war natürlich nicht immer dasselbe Hemd. Zweimal am Tag kam eine Schwester und zog ihm ein frisches an, der Teufel sollte diese Weiber holen. Er hatte ihnen unverblümt gesagt, wohin sie sich ihre Leichenhemden stecken sollten, doch sie hatten allesamt seine Einwände ignoriert.
    Monica hätte ihm einen Schlafanzug oder einen Bademantel mitbringen können. Vielleicht hätte sie es getan, wenn er sie darum gebeten hätte, doch daran hatte er nicht gedacht. Er war zu sehr damit beschäftigt gewesen, sie anzuschauen. Sein kleines Mädchen mit den Schneewittchenhaaren und den traurigen Augen. Wie oft hatte er sie gesehen im vergangenen Jahr? Einmal, zweimal? Eigentlich, so überlegte er, hatte er keinen Grund, sich zu beklagen. Seit sie mit diesem Lilienberg zusammenlebte, kam sie öfter. In den Jahren davor hatte er sie insgesamt nur zweimal gesehen, seit sie in Stockholm wohnte. Verteilt auf einen Zeitraum von vier Jahren.
    Ja, in den letzten paar Jahren war es wirklich ganz gut gelaufen. Sie hatten hin und wieder telefoniert, und letztes Weihnachten hatte sie ihm sogar ein Paket geschickt, mit einer warmen Daunenjacke, die er bis vor ein paar Wochen noch fast täglich getragen hatte. Es war ihm fast so vorgekommen, als hätten sie ein ganz normales Verhältnis zueinander. Als könnte alles irgendwann wieder gut sein, so wie früher, als ihre Augen noch aufgeleuchtet hatten, wenn sie ihn ansah.
    Doch heute hatte er in ihrem Blick nichts Versöhnliches gesehen, sondern wieder nur den Ausdruck, vor dem er sich fürchtete. Sie hatte ihn angeschaut, als wäre er nicht ihr Vater, sondern jemand, den man hassen musste.
    Gustav zwang sich auf die Füße und blieb stehen. Wacklig zwar, aber er stand. Doch der Schmerz war so intensiv, dass ihm das Wasser in die Augen schoss. Jedenfalls sagte er sich, dass es am Schmerz lag. Er war kein Mann, der einfach so anfing zu heulen. Nicht Gustav Axelsson.
    Ruckartig setzte er sich in Bewegung und taumelte zum Schrank. Seine Beine fühlten sich nutzlos an, wie zwei Stöcke, die nicht zu seinem Körper gehörten und jeden Augenblick unter ihm wegbrechen konnten, wenn er nicht richtig aufpasste. Er war ein Krüppel, der nicht mehr in der Lage war, seinen Hof zu versorgen, und er hatte eine Tochter, die ihn am liebsten tot sehen würde.
    Die Tränen liefen ihm jetzt ungehindert über das Gesicht. Blindlings tastete er nach dem Schrank, in dem, wie er wusste, seine Sachen verstaut waren. Er fand den Griff und zog daran, und als die Tür sich öffnete, sah er seinen schmutzigen blauen Arbeitsanzug auf einem Bügel hängen. Die mit Schafsmist verschmierten Schuhe standen auf dem Boden des Spindes. Das Zeug verströmte einen ziemlich stechenden Geruch, doch im Vergleich zu dem widerlichen Karbolgestank des Desinfektionsmittels, das sie hier überall ständig versprühten, rochen seine Sachen wie frisch aus dem Paradies.
    Er bückte sich, um nach

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