Mittsommerzauber
hastig auf. Ohne ein Wort des Abschieds ging sie zur Tür und verließ das Zimmer.
*
Eva sortierte neue Waren ein. Nachdem sie sich umgezogen hatte, war sie noch zum Laden geradelt, um die letzten Handgriffe zu erledigen und die Tageseinnahmen zu zählen.
Eigentlich hätte sie nach diesem langen Tag erschöpft sein müssen. Auf gewisse Weise war sie es auch, aber ihre Müdigkeit reichte nicht über das Körperliche hinaus. Sie fühlte sich hellwach, und all ihre Sinne schienen auf ungewohnte Weise geschärft, fast so, als hätte sie eine Art Zaubercocktail getrunken, dessen Wirkung darin bestand, dass sie ihre Umgebung mit größerer Klarheit wahrnehmen konnte als je zuvor. Alle Gerüche waren deutlicher, alle Farben bunter, alle Gegenstände stärker umrissen als sonst.
Mit dem Finger fuhr sie über die Regale hinter der Ladentheke, streifte die Waren, die darin lagen, spürte ihrer Beschaffenheit nach und versuchte, mit geschlossenen Augen zu erkennen, worum es sich handelte. Kerze, Glasschale, Holzfigur. Bastteppich, Tonkrug, Tischlampe. Schließlich hob sie einen Pullover hoch, presste die flauschige Wolle an die Wange und strich mit den Fingern über das feine Muster der Maschen. Sogar ihr Tastsinn schien sich auf magische Weise verändert zu haben.
Natürlich lag es an ihm. Niemand musste ihr sagen, was passiert war. Ein gut aussehender Fremder war aufgetaucht und hatte sie mit seiner Erscheinung geblendet. Er sah nicht nur aus wie der Prinz ihrer eigenen Mädchentage, sondern wie der Ritter einer jeden Frau. Sie war verrückt, wenn sie sich einbildete, dass er etwas Besonderes in ihr wahrnahm. Trotzdem hatte er sie während ihres gemeinsamen Kaffeetrinkens auf eine Weise angeschaut, die ihr Herz zum Stolpern gebracht hatte.
Das Klingeln ihres Handys riss sie so abrupt aus ihren Gedanken, dass sie um ein Haar den Pullover fallen ließ.
Sie zuckte ein weiteres Mal zusammen, als sie den Namen auf dem Display leuchten sah, und einen absurden Moment lang erwog sie allen Ernstes, nicht abzuheben oder sogar einfach die Trennen-Taste zu drücken.
Aber selbstverständlich tat sie nichts dergleichen. Sie meldete sich, ein wenig atemlos zwar, aber durchaus gefasst. »Hej, Henning.«
»Hej. Wie geht es dir?« Sein Tonfall klang liebevoll, aber Eva meinte auch eine Spur von Arger herauszuhören. Sie konnte es ihm nicht verdenken. Die ganze Woche über hatte sie kein einziges Mal als Erste angerufen. Immer war er derjenige gewesen, der sich gemeldet hatte.
»Alles in Ordnung«, sagte sie. »Ich bin bloß ziemlich geschafft.« Bevor erweitere Fragen stellen konnte, spulte sie einen raschen Monolog ab, um das Gespräch abzukürzen. »Es muss an der Landluft liegen, weißt du. So viel Sauerstoff ist meine Stadtlunge wohl einfach nicht gewohnt. Ach ja, und dem Baby geht es gut. Britta muss sich viel ausruhen, aber dafür bin ich ja hier. Ich kümmere mich um alles.«
»Du hörst dich so aufgekratzt an. So, als hättest du heute noch etwas vor. Hast du?«
Eva lachte und hoffte dabei, dass es sich echt anhörte. »Was ich heute noch vorhabe? Sehr komisch. Ich habe die Wahl zwischen einem Froschkonzert und einem Mondscheinspaziergang... Alles sehr aufregende Sachen, oder?«
»So war es nicht gemeint«, sagte Henning.
Eva hatte den Eindruck, dass sein Tonfall um einiges frostiger klang als zu Beginn des Gesprächs. Und prompt stellte er die gefürchtete Frage. »Hast du Ideen? Zeichnest du?«
»Nein«, sagte sie, ebenso kühl wie er.
»Wir reden darüber«, meinte er. »Bald.«
Nach ein paar nichts sagenden Floskeln beendeten sie das Gespräch. Eva schob das Handy zurück in ihre Tasche und fuhr mit den Fingerspitzen erneut über den Pullover. Sie wartete, dass das Gefühl von vorhin zurückkehrte, doch nichts geschah. Die Magie war verschwunden.
*
David spielte gedankenverloren mit dem Käsemesser, während er auf den See hinausschaute. Hier von der Terrasse des Hauses aus hatte man einen guten Blick aufs Wasser.
Inzwischen war tiefe Dämmerung heraufgezogen, doch über dem See lag ein sanftes Glühen, das bereits den näher rückenden Mittsommer ankündigte. In wenigen Wochen würde es um diese Tageszeit herum immer noch hell sein. Irgendwo schlug eine Nachtigall, und in den Sträuchern hinterm Haus raschelte der Wind.
David aß ein weiteres Stück Schafskäse und versuchte nicht an die Begegnung am frühen Abend zu denken - ein völlig aussichtsloses Unterfangen, wie er nach ein paar Sekunden einsehen
Weitere Kostenlose Bücher