Mittsommerzauber
die Autos an Bord. Ein Mann ging herum und kassierte das Fahrgeld, und kurz darauf legte die Fähre ab. Katarina und Annicka stellten sich an die Reling und richteten ihre Blicke auf die vor ihnen liegende, berückend schöne Insellandschaft.
Sie fuhren an der traumhaften Schärenküste vorbei, schlängelten sich auf schmalen Wasserwegen zwischen kleinen Inseln hindurch. Und es war, als wecke diese Fahrt über das Wasser sehnsüchtige Erinnerungen in Katarinas Herz. Ihre Stimme klang leise und bewegt, als sie sagte:
»Onkel Johan war ein unheimlich netter Mann. Er konnte wirklich gut mit Kindern. Er hat mir das Motorbootfahren beigebracht und den Kopfsprung... abends... haben wir manchmal ein Lagerfeuer gemacht, und er hat mir von den alten Wikingern erzählt.« Sie lachte leise auf. »Es waren ganz schön blutrünstige Geschichten. Mich hat es immer ein bisschen gegruselt. Onkel Johan hatte so eine dunkle, geheimnisvolle Stimme... Ich glaube, er war der beste Geschichtenerzähler der Welt.«
Annicka kuschelte sich an ihre Mutter. »Klingt nach tollen Ferien.«
Katarina sah versonnen auf die Wellen vom Bug der Fähre.
»Ich habe diesen Sommer nie vergessen. Weder das Angeln noch das Bootfahren. Und vor allem nicht Onkel Johans Mandelpudding. Mein Gott, war das eine Sensation.«
Annicka sah sie neugierig an. »Mandelpudding? Besser als deiner?«
»Onkel Johans Mandelpudding 5 war unvergleichlich. Ich konnte nie genug davon kriegen. Und die anderen auch nicht.«
Plötzlich hatte Katarina wieder diesen feinen Geschmack nach Mandeln, Sahne und echter Vanille im Mund. Sie schloss die Augen und seufzte ganz leise. Wunderbar.
Annicka beobachtete ihre Mutter. Sie nahm deren Arm und zog ihn eng um sich. Fast war es, als könne sie selbst den Pudding schmecken. Sie hielt das Gesicht in den Wind und genoss dieses Gefühl von Sommer.
»Und wie ist Tante Augusta?«
Katarinas Stimme wurde weich. »Da fällt mir nur ein Wort ein: lieb. Sie hat ein ganz warmes Lachen und schöne, fröhliche Augen. Ich hab mich in ihrer Nähe immer wohl gefühlt. Irgendwie zu Hause.«
Annicka nickte. Dieses Gefühl kannte sie. Seit sie denken konnte, ging es ihr mit ihrer Mutter so. Bei keinem anderen Menschen auf der Welt fühlte sie sich so beschützt und geborgen wie bei ihr. Sie und Katarina waren eine verschworene Einheit. Sie verstanden sich blind in allen Lebenslagen, sie vertrauten einander und liebten sich innig. Dass es keinen Vater in dieser kleinen Familie gab, hatte Annicka nie vermisst. Sie und Katarina waren sich genug.
Sie beobachtete eine Möwe, die sich geschickt auf ein Stück Brot stürzte, das ihr ein kleiner Junge zuwarf. Noch im Flug schnappte sich der große, weißgraue Vogel die Beute. Annicka dachte an das Ende des Briefes. Ihre Mutter war vollkommen überrascht gewesen von der Ankündigung, dass Onkel Johan ihr etwas vererbt hatte. Annicka fand das aufregend. Etwas zu erben von einem Mann, der ihr ganz fremd war.
»Und was glaubst du, Mama, was wirst du erben?«
Katarina beobachtete jetzt auch den akrobatischen Flug der Möwe.
»Ich weiß es nicht... Keine Ahnung. Lass uns einfach hinfahren und sehen, was Onkel Johan mir vermacht hat. Wahrscheinlich eine Taschenuhr oder ein paar Bücher... Egal was, wir packen es einfach ein, und dann fliegen wir nach Spanien in den Club. Wie wir es geplant hatten. Ich hab Urlaub wirklich nötig.«
Annicka, die nach der Schule oft im Hinterzimmer des Hjört saß und Hausaufgaben machte, wusste, wie anstrengend der Beruf ihrer Mutter war. Als Köchin war sie manchmal von morgens um vier bis nachts um elf auf den Beinen. Sie legte mitfühlend den Arm um Katarinas schmale Taille. »Du arbeitest zu viel, Mama.«
Katarina lachte und zog Annicka noch enger an sich. Küsste sie auf die Stirn.
»Danke für dein Verständnis, meine Große.« Katarina war dankbar, dass Annicka ein so verständnisvolles und unkompliziertes Kind war. Sie war als kleines Mädchen ohne Murren in den Hort und zu Tagesmüttern gegangen, und jetzt, da sie größer war, machte es ihr auch nichts aus, immer wieder ein paar Stunden allein zu Hause zu sein.
Sie standen nun eine Weile stumm nebeneinander. Die Inseln, größere und kleinere, zogen an ihnen vorbei. Es war, als legte sich die Ruhe der Landschaft auf ihr Gemüt.
In Katarina stieg eine unbestimmte Sehnsucht auf. Sie konnte sich nicht genau erklären, wonach, aber es war überwältigend. Plötzlich hörte sie sich mit leiser Stimme
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