Maggie O'Dell 03 - Schwarze Seele
1. KAPITEL
Mittwoch,
20. November,
Suffolk County, Massachusetts,
am Fluss Neponset
Eric Pratt lehnte den Kopf gegen die Wand der Hütte. Gips bröckelte ab, rieselte ihm in den Hemdkragen und blieb am Schweiß im Nacken kleben wie winzige Insekten, die ihm unter die Haut kriechen wollten. Draußen war es ruhig geworden - zu ruhig. Die Stille machte aus Sekunden Minuten und aus Minuten eine Ewigkeit. Was zum Teufel hatten die vor?
Da das Flutlicht nicht mehr durch die schmutzigen Fenster strahlte, musste Eric blinzeln, um die kauernden Gestalten seiner Kameraden auszumachen. Sie waren über die Hütte verteilt, alle erschöpft und angespannt, jedoch abwartend und bereit. Im Zwielicht konnte er sie kaum erkennen, aber riechen: stechender Geruch nach Schweiß und dem, was er inzwischen als den Geruch der Angst identifizierte.
Redefreiheit. Angstfreiheit.
Wo war diese Freiheit jetzt? Scheißdreck! Alles Scheißdreck! Warum hatte er das nicht eher erkannt?
Er lockerte den Griff um das AR-15 Sturmgewehr. In der letzten Stunde war die Waffe schwerer geworden, und doch gab sie ihm als Einziges ein Gefühl der Sicherheit, wie er zu seiner Schande gestehen musste. Mehr als Davids gemurmelte Gebete oder die über Funk gesprochenen Ermutigungen des Vaters. Beides hatte ohnehin vor Stunden aufgehört.
Was nützten auch Worte in so einer Situation? Was konnten sie schon ausrichten, da sie zu sechst in dieser Einraumhütte gefangen waren, umgeben von Wäldern voller FBI- und ATF-Agenten? Welche Worte konnten sie vor dem erwarteten Kugelhagel schützen, wenn die Krieger des Satans sich auf sie stürzten? Die Feinde waren da, genau wie Vater prophezeit hatte, und man brauchte mehr als Worte, um sie aufzuhalten. Worte waren schlichter Scheißdreck! Es war ihm gleichgültig, ob Gott seine Gedanken hörte. Was konnte Gott ihm jetzt noch anhaben? Eric legte sich den Waffenlauf an die Wange, und das kühle Metall war tröstend und beruhigend.
Töte oder werde getötet.
Ja, das waren die Worte, die er verstand. An diese Worte konnte er immer noch glauben. Er legte den Kopf zurück und ließ den Gips ins Haar rieseln, was ihn wieder an winzige Insekten erinnerte, an Kopfläuse, die sich in seinen fettigen Skalp vergruben. Er schloss die Augen und wünschte, den Verstand abschalten zu können. Warum war es so verdammt ruhig? Was zum Henker taten die da draußen? Er hielt den Atem an und lauschte.
Wasser tropfte von der Pumpe in der Ecke. Irgendwo tickte eine Uhr im Sekundentakt. Ein Ast wischte gegen das Dach. Durch ein geborstenes Fenster über ihm fiel kalter Herbstwind ein und brachte den Geruch von Piniennadeln mit und das Geräusch trockener, über den Boden treibender Blätter, als klapperten Knochen in einem Karton.
Das ist alles, was bleibt. Ein Karton voller Knochen.
Knochen und ein altes graues T-Shirt, Justins T-Shirt. Mehr war ihm nicht von seinem Bruder geblieben. Vater hatte ihm den Karton gegeben und gesagt, Justin sei nicht stark genug gewesen. Sein Glaube sei nicht stark genug gewesen. Und so sähe es aus, wenn man nicht ausreichend glaube.
Eric wurde den Anblick der weißen, sauber von Wildtieren abgenagten Knochen nicht los. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, wie sich Bären oder Kojoten - oder vielleicht beide - knurrend um das Fleisch gerissen hatten. Wie sollte er mit der Schuld fertig werden? Warum hatte er es zugelassen? Justin war ins Lager gekommen, um ihn zur Flucht zu überreden, und was hatte er im Gegenzug getan? Er hätte nie erlauben dürfen, dass Vaters Initiationsritus stattfand. Er hätte mit Justin fliehen sollen, solange sie die Chance dazu hatten. Welche Chance blieb ihm jetzt? Und das einzige Andenken an seinen jüngeren Bruder war ein Karton voller Knochen.
Bei dem Gedanken schauderte er. Er öffnete die Augen, um zu sehen, ob jemand seine Reaktion bemerkt hatte. Doch ringsum war nichts als Dunkelheit.
„Was passiert da?“ fragte eine greinende Stimme.
Eric sprang geduckt auf und brachte das Gewehr in Anschlag. Trotz der Dunkelheit erkannte er die roboterhaft ruckartigen Bewegungen der anderen. Ihre Panik kam ebenfalls im Rhythmus der metallischen Geräusche zum Ausdruck, mit denen auch sie die Waffen in Anschlag brachten.
„David, was ist da los?“ fragte die Stimme wieder, leiser diesmal und begleitet von einem statischen Knacken.
Eric atmete durch und glitt wieder an der Wand hinab, während er David auf das Funkgerät auf der anderen Seite des Raumes zukriechen
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