MK Boeckelberg
er nicht zum Training erschienen. Er hatte sich ordentlich abgemeldet. Sein Fernbleiben hatte er mit Magenproblemen erklärt. Vom Assistenztrainer war keine Rückfrage gekommen, geschweige denn ein mitfühlendes Wort von seinem Trainer.
Alexander hatte keine andere Reaktion erwartet, trotzdem fühlte er sich tief getroffen. Er hatte nach dem Telefonat im Wohnzimmer auf der Couch gesessen und mit den Tränen gekämpft. So konnte man doch nicht einfach mit ihm umgehen.
Den ganzen Nachmittag über hatte er in den Alben mit den alten Berichten geblättert, in denen er erwähnt war. Er hatte sich wehmütig die Zeitungsfotos angesehen, auf denen er meist im Zweikampf um den Ball zu sehen war. So kannten ihn die Fans: Immer auf Höhe des Balls, immer ein zuverlässiger Spieler, der seinem Gegenspieler keine Chance ließ.
Wie es aber hinter dieser Fassade aussah, dass wussten die Fans nicht. Und das war gut so. Das ging keinen was an. Wichtig war allein die Garantie, dass Alexander Rauh eine feste Größe in der Rechnung der Trainer war. Absolut loyal und ein Vorbild; auch außerhalb der Stadien.
Er sah auf die Straße. Der Wagen des Bild -Reporters war endlich weg. Der Mann hatte ihn über Tage regelrecht belagert. Was hatte er sich erhofft? Dass er ihn von seinem Fenster aus mit Stühlen oder seinem Fernseher bewerfen würde? Dass er ihm den Stinkefinger zeigen würde?
Er hätte es besser wissen müssen. Rauh war außerhalb des Platzes nie ausgeflippt, hatte nie die Kontrolle über sich verloren. Weil er genau die Konsequenzen kannte. Selbst als damals die betrunkene Frau im Markt 26 ein Glas Bier über seinem Kopf ausgeschüttet hatte, aus Wut über seinen verschossenen Elfmeter, war er ruhig geblieben und hatte sich vom Wirt lediglich ein frisches Handtuch geben lassen. Das war eben der Preis gewesen für sein Leben als Profifußballer. Das war doch auch nie ein Problem. Im Gegenteil, ihm war es immer nur recht gewesen, wenn die Journalisten an ihm vorbeigingen, um anderswo ihre Geschichten zu bekommen.
Aber seit er von diesem Hünner unter Druck gesetzt wurde, seit er die Fotos gesehen hatte, die ihn nackt unter der Dusche zeigten, seine Puppe zärtlich im Arm, hatte sich die Welt in eine tiefschwarze Höhle verkehrt, ohne Hoffnung, den Weg nach draußen finden zu können.
Nun war alles zerstört. Seit heute hatte er kein Ziel mehr. Er hatte sich wieder zum Training geschleppt und war doch nur mit dem Satz begrüßt worden: »Bist du bescheuert, warum kommst du nicht zum Training?« So als habe seine offizielle Krankmeldung keinen Wert gehabt.
Er hatte nicht lang überlegt, sich auf dem Absatz umgedreht und war wieder in seinen Wagen gestiegen. Ohne Ziel war er anschließend durch die Stadt gefahren. Dieser eine Satz hatte ihm endgültig klargemacht, dass er in diesem Geschäft nichts mehr zu suchen hatte. Dass er nicht mehr gebraucht wurde. Er hatte die wüsten Beschimpfungen nicht mehr gehört, die ihm hinterhergerufen worden waren.
Schließlich war er irgendwann am Schloss Rheydt ausgestiegen, war dann, ohne es zu bemerken, die Wege entlanggegangen, die er mit der Mannschaft regelmäßig als Trainingsstrecke benutzt hatte. Er hatte auch die Spaziergänger nicht bemerkt, die ihn gegrüßt oder einfach nur angestarrt hatten. Er hatte an die Zeiten gedacht, in denen er fröhlich und unbekümmert im Pulk der anderen Spieler mitgelaufen war. Als er schließlich am Eingang zum Schlosshof angekommen war, erschien ihm die Umgebung leer und wüst.
Wieder zu Hause schob er die Gardine zur Seite und öffnete das Fenster. Er schwang den Fensterflügel ganz zur Seite. Draußen schien die Sonne, aber er sah sie nicht. Er wollte nur die Luft einatmen. Aber sie kam ihm schal und abgestanden vor. Er fühlte, wie sie ihm den Atem nahm. Er klammerte sich an das Fensterbrett. Er hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Nur mit äußerster Konzentration auf seine Muskeln und seine Hände konnte er das Fenster wieder schließen. Endlich lehnte er sich mit dem Rücken an das Fensterbrett und atmete schwer. Sein Leben als Fußballer war mit dem heutigen Tag zu Ende. Soweit hatte er es begriffen. Aber was würde danach kommen?
Er überlegte. Er würde Hünner anzeigen. Sein Vorwurf würde genau zum richtigen Zeitpunkt kommen. Wenn es stimmte, was in der Zeitung stand, dann war Hünner ein Mörder im doppelten Sinn. Er hatte ihm, dem Fußballer, das Leben geraubt, und auch dieser Frau. Für ihn bestand kein
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