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Mobile Röntgenstationen - Roman

Mobile Röntgenstationen - Roman

Titel: Mobile Röntgenstationen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: ATHENA-Verlag e. K.
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auskannten wie in ihrer Garnison. Nicht von ungefähr nannten später die NATO-Strategen die sowjetrussische Prag-Operation einfach großartig! In die Fantasie passten unschwer jene über die bayerische Grenze flüchtenden Tschechen, die in Alarmbereitschaft versetzte, aber Gott sei Dank in den Kasernen verbliebene Bundeswehr. Als würde ich selbst daneben stehen, spürte ich die Verwirrung und Anspannung in Brüssel, Moskau, Bonn, Washington … Dasselbe spielte sich in jener Nacht, nur in Miniatur, auch in der Kleinstadt nahe der polnischen Grenze ab, auf dem zentralen Platz, dem einzigen, den es gab. Wozu brauchen sie all diese Lastwagen? – dachte ich naiv. Fahrzeuge der verschiedensten Art waren zu besichtigen, die einen hatten zuvor Mist geladen, andere rochen nach Heu, Holz, Schotter oder Ziegelsteinen. Bei den meisten handelte es sich um so genannte Molotovkas : recht unansehnliche, aber robuste Maschinen. Von irgendwoher ratterte sogar ein alter Studebaker heran, einst ein Geschenk der Alliierten, der lange Jahre irgendwelche Kolchosschweine und Kälber zum Schlachthof transportiert hatte. Alle wussten es bereits: In dieser Nacht wird den Tschechen brüderliche Hilfe zuteil. Und war es wichtig, wenn diese Dussel ein solch großherziges Angebot verabscheuten, es fürchteten wie der Teufel das Weihwasser? Ich hatte nur eines im Sinn: mich ordentlich auszuschlafen. Und, zu meinem eigenen Erstaunen: Ist da nicht etwa einer ertrunken von meinen kleinen Banditen? Hat sich nicht einer beim Herumtollen was gebrochen? Seltsam! Da war Česlovas aus Kapsukas, der überhaupt nicht schwimmen konnte, aber stets der Erste am See sein wollte. Gerade so über Wasser hielten sich die Kaunasser Brüder Lagunavičiai, der kleine Mulė, der offenbar auch aus Kaunas kam, und noch einige. Die im Stau stecken gebliebenen Maschinen hupten laut. Aber eine besondere Panik gab es nicht. Eine Mehrheit wurde um den Schlaf gebracht, das war alles. Ich hörte die Männer: Der Westen wird auch diesmal kuschen, es ist auch besser, sich nicht mit den Russen anzulegen. Ein anderer: Ihr werdet sehen, die Tschechen werden einen großen Lärm machen und dann brav die Ohren anlegen. Großartig, sagte noch einer, dafür werden sie uns noch viel mehr schützen!
    Am Rand des Platzes stieß ich unerwartet auf die sich unruhig umschauende Lucija. Und sie sah mich, rannte auf mich zu, schlang ihre heißen, dürren Arme um meinen Hals und küsste mich auf den Mund. In dieser Nacht schliefen wir das erste Mal miteinander, hemmungslos, zwei Verrückte, zwei Ratten, in die Ecke gepresst in einem sinkenden Schiff. Vielleicht übertreibe ich ein wenig, aber damals schien mir das wirklich so. Dann redeten wir ganze Nächte hindurch, nur nicht über Gefühle, es ging um Literatur. Lucija war nämlich bis zum Wahnsinn in die russische Literatur verliebt, verstand sie, sprach inspiriert, vielleicht sogar exaltiert, aber was sie sagte, klang echt. Ich war jung, Lucija wurde meine Liebes- und Literaturlehrerin, und auf beiden Gebieten machte ich erstaunliche Fortschritte, wenigstens sagte sie mir das. Nachdem ich ein wenig geschlafen hatte, schlenderte ich durch das Lager und wartete von frühmorgens an einzig auf den Abend. Die Praktikantinnen, die alles mitbekamen, sahen weg, und der Lagerleiter brachte alles auf ein Wort: molodec! [12] Die Kinder mochten mich jetzt sogar auf eigentümliche Weise, ich ließ sie nämlich tun, was immer sie wollten, nur nicht ins Wasser! Darüber hinaus wies ich die guten Schwimmer an – es gab auch solche –, auf die Tollpatsche Acht zu geben, und es schien, als gehorchten diese. Einmal organisierten wir einen Ausflug mit Übernachtung, Lucija war auch dabei mit ihrer Mädchengruppe. Die Kinder, wahre Engel diesmal, stellten uns ein Zelt auf, das sie mit Moos auskleideten. Nachdem man ein paar Schleien und Barsche gefangen hatte, wurde Fischsuppe gekocht. Ein Lagerfeuer brannte bis zum Morgen. Die Kinder schliefen, und Lucija und ich setzten uns an den See, das mit Moos gepolsterte Nachtlager wollten wir nicht ausprobieren. Nach dem Ausflug setzten sich die heißen Nächte fort, wir liebten uns und vernahmen zugleich immer beunruhigendere Nachrichten aus dem okkupierten Prag. Lucija verteidigte die Russen nicht, nur ihre Literatur. Über Politik wollte sie überhaupt nicht reden. Runzelte nur die Stirn, als ich laut die Kubakrise erwähnte, damals war ich kaum dreizehn gewesen. Lassen wir das, sagte sie, ich deklamiere dir

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