Mobile Röntgenstationen - Roman
ein Zelt auf. Nachdem der Lagerleiter sie einmal dort hatte herauskriechen sehen, war er gleich zur Stelle: Seid ihr verrückt? Die Kinder laufen hier rum!
Ein großer Moralist. Andererseits war er im Recht: Hier hatte alles Augen. Abends gingen wir in den Park. Lucija sprach ständig über literarische Themen. Ich zweifelte nicht daran, dass sie auch selbst hin und wieder die Feder in ihr heißes Blut tauchte, aber als ich eine diesbezügliche Andeutung machte, wurde ich abgefertigt, als hätte ich sie der größten Sünden der Welt bezichtigt: Schreiben? Nachdem sie geschrieben haben?!
Ich verstand und schwieg. Wurde wieder mal der Unbildung bezichtigt und der mangelnden Liebe zur russischen Literatur. Ich rechtfertigte mich mit meiner Jugend und unzureichender Beherrschung der russischen Sprache. Ihre Teenagerjahre hatte Lucija in Klaipėda verbracht, wo man ohne die Sprache Lenins nicht einen Schritt tun konnte, wenigstens behauptete sie das und war damit im Vorteil.
Das Lager ging bereits dem Ende zu. Die Kinder langweilten sich. Schon welkten und fielen die noch grünen Lindenblätter. Sämtliche Praktikantinnen durften sich mittlerweile als Kolleginnen des Lagerleiters fühlen. Die Eidechsen ließen sich neue Schwänze wachsen und wärmten sich an sonnigen Plätzen, die immer knapper wurden. Den Herbst spürend, heulten sämtliche Stadtköter traurig den Mond an. Aber die Welt atmete auf. Die Russen brachten ihre Marionetten an die Macht, Blut war nicht geflossen. Ein wenig heuchlerisch bemitleidete man die Tschechen und sogar die Slowaken, die Dissidenten verdienten ordentlich Geld, indem sie Essays schrieben und über Europa Libera und andere Radiostationen zu ihren Landsleuten sprachen. Arbeit gab es für alle, für die Sicherheitsbeamten ebenfalls. Ich staunte, als der Geschichtslehrer Kamblevičius, den ich in Verdacht hatte, gebildet zu sein, in schöner Einfalt fragte, warum sie denn aufmuckten, diese Tschechen? – Leben hundertmal besser als wir, und es reicht immer noch nicht. Noch drastischer drückte er sich aus, aber lassen wir das.
Ich war Lucija für manches dankbar. Dass sie nicht von Liebe redete. Dass sie nichts forderte. Nicht mal wegen dieser Literaturstunden konnte ich ihr böse sein, auch die waren von Nutzen. Und mit den Halbwüchsigen kam ich jetzt besser zurecht, sie begannen sogar ein wenig auf mich zu hören. Ich tat so, als bemerkte ich es nicht, wenn sie rauchten oder sich abends zu den Mädchen schlichen. Ich wusste, dass dort nichts passierte, in der Gruppe zogen sie los, in der Gruppe kamen sie auch zurück. Wichtiger war hier das Geheimnis selbst, die Aura des Verbotenen, aber der Lagerleiter hätte mir auch dafür alle Verantwortung aufgeladen und danach vielleicht auch sich selbst. Häufig traf das mobile Kino bei uns ein, aber Lucija und ich gingen nur, wenn ihrer Meinung nach tolle Filme gezeigt wurden. So sah ich La Strada und noch einen italienischen Film mit dem Titel Sie zogen den Soldaten nach. Über Soldatenhuren. Bis heute erinnere ich mich an die Mark erschütternde, dramatische Filmmelodie. Die Deutschen waren in diesem Streifen anständig, aber dann auch wieder grausam, alle anderen Männer, wie im Krieg üblich, blutrünstig und geil. Wenn ich mich an diese beiden Filme erinnere, denke ich immer auch an Lucija, sie war die erste wirkliche Frau, die ich hatte, ich hing an ihr. Obwohl kaum ein paar Jahr älter als ich, tröstete sie mich wie eine Mutter. Dass ich nicht wegen Lappalien herumflennen solle. Dass die Angelegenheiten mit Elli, du wirst sehen, sich klären werden. Am letzten Gaudeamus -Tag hatten wir uns heftig in den Haaren gelegen, ich hatte irgendeinen ihrer kapriziösen Wünsche nicht erfüllt. Wie auch immer. Lucija war nicht ganz und gar verdorben, außerdem hatte sie ein großartiges Gefühl für Humor. Im Ort, kein Wunder, fühlte sie sich eingeengt. Sie wusste, dass sie ohnehin nicht lange in diesem Provinznest unterrichten würde, daher scherte sie sich nicht um die hiesigen Vorstellungen von Moral, umso mehr, als sie mit Heiligen nichts am Hut hatte. Sie war heiß wie die Hölle, wenigstens schien es mir damals so. Alles verwandelte sie in Lachen oder in Poesie, bis heute bin ich ihr dafür dankbar, dem Roten Wacholder. Von weitem, von weitem schon war dieses Rot zu sehen. Ich wäre bereit gewesen, mich auf einem Hof als Stallknecht zu verdingen, könnte ich dafür den Tag verlängern und zugleich den Sommer. Du wirst in die Stadt
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