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Mobile Röntgenstationen - Roman

Mobile Röntgenstationen - Roman

Titel: Mobile Röntgenstationen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: ATHENA-Verlag e. K.
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lieber Cvetaeva! Und das tat sie dann auch, in gedämpftem Ton, aber empfindsam und gekonnt. Wir fielen übereinander her und redeten dann wieder, bis Lucijas Vermieterin, angespornt vom Ortsgeistlichen und ihren Glaubensgenossen, es nicht mehr ertrug und uns eines Nachts vertrieb, wie Adam und Eva aus dem Paradies. Raus, sündiges Pack! Die gute Pigagienė. Eine von erotischen Begierden gequälte Witwe. Eine kinderlose Alte. Brave Dienerin ihres Herrn, die alle möglichen Blumen und Gewächse zog, die alle auf dem Altar landeten. Lucija packte rasch ihren Koffer, warf sich den Regenmantel über die Schulter, reichte mir noch einen Beutel. Die Bücher, verehrte Dame, sagte sie zur Pigagienė, hol ich später, vielleicht morgen. Und wehe, es ist was verschwunden! Die Witwe drohte, sich beim Lagerleiter über uns zu beschweren, und als Lucija nur schallend lachte, beschwor sie alle Strafen des Himmels und der Hölle auf uns herab, damals erschien uns beiden das nicht schlimm. Als wir auf der Straße standen, wo schon der Morgen dämmerte, verfinsterte sie sich, nannte die Vermieterin wütend Hexe und alte Betschwester und dann noch schlimmer, schon russisch. Obwohl ich ahnte, dass der guten Frau nicht sofort der Geduldsfaden gerissen war, dass Lucija wohl auch zuvor schon lernwillige Schüler gehabt hatte. Aber ich schwieg. Fragte sie nichts. Fühlte mich ihr zugehörig. Über Gefühle, wie gesagt, sprachen wir nie miteinander. Nur über Pasternak, Esenin, Mandel’štam, Achmatova und Cvetaeva. Sogar über Majakovskij und Gor’kij. Zuweilen über Turgenev und Bunin. Klassik! Aber Vorträge über Gercen und Dobroljubov konnte ich schon nicht mehr ertragen. Dann begann Lucija mich zu kitzeln, und alles endete im Bett. Was für ein Temperament! Dieser Rote Wacholder flammte auch von innen.
    Die nächste Nacht brachte Lucija mich zu einer ihrer Kolleginnen, einer Mathematikerin, die wollte gerade an die See fahren, aber weil sie Parteimitglied war, musste die Reise wegen der Ereignisse in der Tschechoslowakei verschoben werden. Man wisse nicht recht, wo sie nützlich sein könnte, sagte man ihr bei der Parteiorganisation. Mathematikerin! Vielleicht zählt sie die NATO-Gefangenen? Sie hasste diese Partei, aber es fehlte ihr der Mut auszutreten. Ein solcher Entschluss hätte nicht nur das berufliche, sondern, vielleicht, auch das physische Ende bedeutet. Besonders jetzt, wo die Welt sich in äußerster Anspannung befand und mit angehaltenem Atem abwartete, wie alles enden würde. Obwohl es nicht schwer war, das zu erraten: mit der Besetzung des Landes und dem stillem Abwürgen des Prager Frühlings. Die Tschechen schossen nicht auf die Russen, sie schämten sich nur für sie. Die Anspannung, gewiss, hing noch einige Tage in der Luft, aber es war schon zu spüren, dass alles so enden würde, wie es einst in Berlin endete, später in Ungarn. Nur eben ohne Blut, angeblich friedlich.
    Schließlich wurde es der Mathematikerin langweilig, und sie fuhr still und leise an die Ostsee, uns überließ sie ihr Zimmer, das direkt am Seeufer lag. Man hätte durchs Fenster klettern und geradewegs in das grünliche Wasser eintauchen können. Eine märchenhafte Woche. Es stellte sich heraus, dass Lucija hervorragend kochen konnte. Nach dem ewigen Graupeneintopf im Lager durfte ich mich als Gourmet fühlen. Sie erzählte mir von ihrer Kindheit, in einem Ort nahe der lettischen Grenze. Der Vater, ein Veterinärmediziner, sei an Tetanus gestorben. Wundstarrkrampf, kannst du dir das vorstellen? Ich stellte es mir vor. Erinnerte mich an einige Fälle aus meiner Kindheit. Zwei Kinder wurden gerettet, das dritte starb. Und ich, so Lucija mit seltsamem Stolz, erkrankte an Tuberkulose. Knochentuberkulose. Deshalb bin ich auch so geblieben, flach wie ein Brett. Ich betrachtete sie aufmerksam: Sie sah nicht wie eine Kranke aus. Dummkopf, lachte sie, wenn du wüsstest, wie es mir ergangen ist! Wie ich mich herumgequält habe mit verschiedenen Hanteln, mit Gymnastik! Ich wollte geheilt werden und bin geheilt, beendete sie kühn das Thema.
    Die Mathematikerin hinterließ uns auch einen tüchtigen Kahn. Nachts ruderten wir auf den See hinaus, schliefen auf dem Boden, erst gegen Morgen ruderten wir zurück. Als wir wieder einmal drüben ankamen, aus irgendeinem Grund sehr glücklich, erwartete uns am anderen Ufer die Mathematikerin. So braun gebrannt, dass wir sie kaum erkannten. Nur die Zähne leuchteten.
    Lucija blieb bei ihr, und ich schlug am Seeufer

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