Modesty Blaise 02: Die Lady bittet ins Jenseits
war.»
«Natürlich.»
Tarrant hob leicht die Augenbrauen. «Machten Sie die gleichen Erfahrungen, als Sie noch ‹Das Netz› leiteten?»
«In gewisser Hinsicht, ja.» Sie hatte sich in die Ecke zurückgelehnt und blickte nachdenklich vor sich hin.
«Eine Verbrecherorganisation zu leiten, ist etwas anderes. Die meisten Leute, die für einen arbeiten, sind Schurken; man muß mit ihnen umgehen, als wäre man ein Löwenbändiger. Man muß sie dazu bringen, daß sie ihre Kunststückchen so machen, wie man es haben will. Aber sie sind natürlich nicht alle Schurken, und schließlich arbeiten sie für einen. Wenn man dann einen Mann verliert, oder er wird verwundet … nun, dann fühlt man sich ein wenig müde, vielleicht.»
«Ja.» Tarrant nickte. «Und selten kann man dagegen etwas tun.»
«Bleibt nur eines: eine Invalidenrente ausbezahlen», bemerkte Willie. «Die Prinzessin hat einen Fonds angelegt …»
«Halt’s Maul, Willie.»
Er grinste und schwieg. Als sie vor einer Verkehrsampel anhielten, drehte er sich herum und sah Tarrant an. «In Prag verloren Sie den Mann?»
«Ja.» Willies Augen wanderten für einen kurzen Moment fragend zu Modesty und dann wieder zu Tarrant. «Muß an die vier Jahre her sein, daß wir das letzte Mal auf dem Wenzelsplatz spazierengingen, Prinzessin.»
«Ach», meinte Tarrant, bevor sie noch etwas erwidern konnte, «bemühen Sie sich nicht, Willie.»
«Ich hatte dort mit einigen Leuten zu tun, bevor wir uns zurückzogen», sagte Modesty. «Vielleicht könnte ich einige Hebel für Sie in Bewegung setzen.»
Tarrant schüttelte den Kopf. «Nein, dazu ist es zu spät, Modesty. Der Mann ist tot. Und selbst wenn er noch am Leben wäre, wäre es ein schlechtes Unterfangen – ein zu großes Risiko bei geringen Chancen.»
Willie wandte sich wieder dem Lenkrad zu und ließ den Wagen anfahren.
«Er fängt schon wieder an, ruhelos zu werden», sagte Modesty. «Das ist gewöhnlich ein Zeichen dafür, daß er zwischen zwei Mädchen steht.»
«Nein, wirklich nicht, Prinzessin, Ehrenwort.» Willies Stimme klang leicht indigniert. «Ich habe beschlossen, Melanie morgen für ein paar Tage nach Le Touquet mitzunehmen.»
«Wer ist Melanie?»
«Die Dunkle mit dem großen Mund – sie singt im
Pink Flamingo
.»
«Ach ja, ich weiß. Sieh zu, daß du rechtzeitig zurück bist, um Lucille zu begleiten, Willie.»
«Ich werde pünktlich sein.» Willie gab einem ungeduldigen Kleinwagen ein Zeichen, vorzufahren und seufzte. «Ich bin noch immer ganz erschüttert, daß sie Sir Gerald heute die Brieftasche zog. Ich verstehe nicht, warum sie das noch immer tut. Und die Art, wie sie noch immer ihre Krokodilstränen fließen lassen kann.»
Er schüttelte den Kopf in ungläubiger Bewunderung. «Du wirst sie ins Gebet nehmen müssen, Prinzessin.
Auf dich hört sie mehr als auf mich.»
«Ich glaube», begann Tarrant zurückhaltend, «es wäre für sie besser, wenn sie ein Heim mit Eltern hätte.»
«Ja.» Modesty zuckte die Achseln. «Ich weiß, wir sind nicht das Richtige für sie. Aber sie könnte es auch schlimmer haben.»
Tarrant dachte an die unwahrscheinlichen, fragmentarischen Einzelheiten, die er aus Modestys Vergangenheit wußte … das kleine, verlassene Kind in dem Gefangenenlager, viel jünger, als Lucille es heute war; der unmenschliche Kampf ums Überleben in den Jahren, da sie, immer noch ein Kind, sich durch Griechenland, die Türkei und den Mittleren Osten durchgeschlagen hatte; das Herumzigeunern in Flüchtlings- und Vertriebenenlagern während ihrer Pubertät; dann ihre abenteuerliche Fußwanderung mit einem alten Mann, dessen Beschützerin sie gewesen, eine Wanderung, die in Tanger endete, wo die erste Saat für die Organisation ‹Das Netz› gesät wurde. Diese weitverzweigte und höchst exklusive Verbrecherorganisation leitete sie acht Jahre lang.
Tarrant hätte schrecklich gerne mehr über ihre Vergangenheit gewußt, aber sie sprach kaum jemals darüber und Willie Garvin auch nicht.
Willie war der Mann, den sie in den ersten Anfängen des ‹Netzes› irgendwo aufgespürt und in ihre Dienste genommen hatte. Er besaß außergewöhnliche Fähigkeiten und gute Anlagen, aber diese guten Eigenschaften waren sein ganzes Leben lang unter dem Gewicht all jener Dinge verdeckt gewesen, die einen Verbrecher ausmachen: unter dunklen und selbstsüchtigen Leidenschaften, unter Haß und Neid.
Modesty Blaise gelang es, diese Kruste wie mit Zauberhand zu zerschlagen und Willie Garvin von den
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