Modesty Blaise 09: Die Lady fliegt auf Drachen
Leichen herumliegen zu lassen. Der Feind würde morgen zuschlagen, entschied Willie. Was immer er tun würde, würde er morgen tun.
Als er zum Gipfel zurückkehrte, rief ihn Modesty aus dem kleinen Chalet. Sie hatte in der Küche ein paar Vorräte gefunden und zwei Tassen Kaffee zubereitet.
Eine Weile saßen sie schweigend auf der Schwelle und tranken das heiße Gebräu, dann sagte sie: «Ich weiß, daß es nicht geht, aber es ist ein Denkanstoß.»
«Schieß los, Prinzessin.»
«Im Lager gibt es ein paar große Polyäthylenplanen, wie man sie manchmal an Stelle von gewöhnlichem Glas für Treibhäuser benutzt. Es gibt auch eine Menge Schnüre und Kabel. Wenn es eine Möglichkeit gäbe, Fallschirme zu fabrizieren? Falls wir sicher zum Meer kämen, könnten wir vermutlich ohne Schwierigkeiten so lange schwimmen, bis wir eine Stelle finden, wo wir an Land gehen können. Dieses Polyäthylen ist verdammt fest. Selbst um eine Packung Erdnüsse zu öffnen, muß ich meine Zähne zu Hilfe nehmen.»
Willie schüttelte langsam den Kopf. «Für einen Fallschirm braucht man eine bestimmte Form. Und außerdem …»
«Könnten wir nicht Stücke in dieser Form ausschneiden? Es gibt hier einen dieser Apparate, mit denen man das Polyäthylen verschweißen kann, und sie haben den Strom nicht abgedreht.»
«Es geht einfach nicht, Prinzessin, und es gibt ein Dutzend Gründe dafür. Man muß die Leinen irgendwie befestigen, und ich bezweifle, ob wir überhaupt so weit kämen. Dann ist der Absprung ein Problem. Ich weiß, daß die Klippen ein wenig überhängen, aber wir müßten mit dem Fallschirm im Arm abspringen, und vermutlich würden wir uns an einem der Stricke erhängen. Wenn nicht, würden wir, sobald sich der Fallschirm öffnet, an einer Klippe klebenbleiben.» Sie blickte in die Dämmerung. «Keine Chance?»
«Tut mir leid, Prinzessin.»
Sie nickte. «Das ist die zweite dumme Idee, die ich heute abend hatte. Vielleicht kann ich noch eine dritte produzieren …»
Sie hielt inne, als sie spürte, wie er neben ihr erstarrte. Einen Augenblick dachte sie, er habe ein Anzeichen von Gefahr gesehen oder gehört, und griff nach dem Star .45, als er leise sagte: «Polyäthylen. Ich könnte ein Segel machen.»
«Was?»
«Als man anfing, mit Hängegleitern zu experimentieren, hat man für die Segel Polyäthylen verwendet.
Wenn wir ein Segel fabrizieren könnten, das groß genug für uns beide ist, könnten wir praktisch überall auf der Insel landen.»
«Ein Segel?» Sie blickte in die zunehmende Dunkelheit.
«Gibt es genug Bambus, um einen Rahmen anzufertigen?»
«Ich dachte nicht an Bambus.» Er überlegte einen Moment, dann schüttelte er den Kopf. «Wir brauchen für uns beide ein ziemlich großes Segel, und dafür ist nicht annähernd genug Bambus vorhanden. Aber diese Treibhäuser haben einen Metallrahmen. Irgendein Leichtmetall. Wird nicht so stark sein wie das übliche Dural, aber … nein, warte! Wir können zwei Bahnen zusammenschweißen, und rechteckige statt runde Röhren nehmen.» Sie lachte, von freudiger Erregung überkommen.
«Glaubst du, schaffst du das tatsächlich, Willie?»
«Warum nicht? Das Ding muß nur einmal fliegen, und das ist schon sehr viel. Vorhin habe ich die Werkstatt durchsucht; es sind mehr Werkzeuge vorhanden, als ich jemals brauchen werde. Ich kann die Flug- und die Querrohre absägen und Löcher bohren, um sie aneinanderzufügen. Ich erinnere mich nicht, Schrauben und Muttern gesehen zu haben, aber es gibt ein, zwei dünne Stahlruten; wir können kleine Stücke abschneiden und sie als Nieten verwenden.» Mit halbgeschlossenen Augen nippte er von seiner Tasse, während er die einzelnen Arbeitsgänge bereits vor sich sah.
«Hauptsache ist, den Drachenflieger hübsch einfach zu halten, also werden wir ein Deltasegel machen. Rechteckige Röhren für den Rahmen, und für die Verspannung gibt es eine Menge Drähte. Für einen einmaligen Flug werden wir keine besondere Verspannung brauchen. Auch keine Gurte oder Sitze. Der Rahmen muß groß genug sein, daß wir stehen können, sagen wir mit einer Basis von etwa zwei Metern, und steuern werden wir mit unserem Körpergewicht. Kein Problem.»
Modesty saß da, hörte zu, spürte seine freudige Erregung und den Funken, der auf sie übersprang. Heute hatten sie zum erstenmal seit dem Augenblick, als sie Luke Fletcher aus dem Meer fischte, die Initiative an sich gerissen. Es war, als wären sie plötzlich aus einem dumpfen Verlies an die frische
Weitere Kostenlose Bücher