Mönchsgesang
und näherte sich mit weichen Knien seinem Betstuhl.
»… und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen«, intonierte er immer wieder, während er den Reflex unterdrückte, sich ständig angstvoll umzublicken.
Mit etwas Wachs befestigte er die Kerze am Vordergestell seines Betstuhls. Noch einmal suchte er vergeblich das Kreuz hinter dem Altar, bevor er sich schwerfällig niederkniete. Jetzt erst merkte er, dass dort etwas vor ihm lag. Seine milchigen Augen blinzelten verwirrt. Mit einer vorsichtigen Bewegung tastete er nach dem Gegenstand.
Plötzlich zuckte seine Hand zurück, als hätte sie in einen brennenden Herd gefasst. Er wollte schreien, doch er konnte nicht. Eine siedend heiße Welle rollte durch seinen Körper, er spürte, wie seine Nackenhaare sich sträubten wie die einer Katze. Vor ihm lag eine welke weiße Lilie. »Die Botschaft aus dem Jenseits«, stammelte er fassungslos. Mit einem Mal fielen ihm die Geschichten ein, die man ihm damals, als er noch ein junger Novize gewesen war, erzählt hatte. Die weiße Lilie – eine Todesbotin! Derjenige, dem sie zuteil wird, muss in drei Tagen sterben … Für einen Augenblick schoss dem Alten der Gedanke durch den Kopf, die Lilie einfach auf den Platz seines Nachbarn zu legen. Doch dann hielt er inne. Wie konnte er sich nur einreden, das Schicksal betrügen zu können? Er zwang sich, tief und ruhig zu atmen. Und allmählich merkte er, wie das Gefühl der Angst ihn verließ. Sterben? Warum eigentlich nicht? Er hatte ein sehr hohes Alter erreicht. War es nicht sogar erstrebenswert, endlich von den Mühen und Qualen des irdischen Lebens entbunden zu sein und die Ewigkeit in der Nähe Gottes zu verbringen? Die Maske der Angst wich einem seligen Lächeln. »Wenn es denn sein muss, so komme ich mit Freuden, Herr«, sagte der alte Mönch in das Halbdunkel der Klosterkirche, erleichtert über die Weisheit, die ihn endlich erreicht hatte.
2
I m ›Carolus Magnus‹, der Meroder Dorfschenke, hätte an diesem Sonntagabend nicht einmal mehr eine Maus einen Platz gefunden. Selbst viele der Bäuerinnen aus dem Ober- und dem Unterdorf hatten es sich – zum verhohlenen Ärger ihrer Ehemänner – nicht nehmen lassen, den Versen des Spielmannes zu lauschen, der nun bereits den dritten Abend in Folge sein Epos vortrug. Und heute – das hatte er versprochen – würde er endlich das von allen mit Spannung erwartete furiose Finale folgen lassen. Viele der Bauern hatten untereinander sogar Wetten abgeschlossen: Würde sich Krimhild, die verbitterte Königin der Hunnen, an ihrem grimmigen Oheim Hagen, dem Mörder ihres geliebten Siegfried, rächen können? Würde es zum Kampf der Burgunden gegen die Truppen König Etzels kommen? Und würden die Burgunden – oder Nibelungen, wie der Spielmann sie zu nennen pflegte – ihre Heimat in Worms jemals wieder sehen?
Ach, was waren die Nerven der Zuhörer an den vergangenen drei Tagen strapaziert worden: Grausiges Schaudern, als Siegfried mit dem Drachen kämpfte. Unendliche Bewunderung, als der Drachentöter das Heer der Dänen fast im Alleingang besiegte. Rührend die tragische Liebe der Kriemhild zu dem Recken. Und all die bösen Intrigen am Hofe des Königs Gunther! Man konnte es fast schon erahnen: Siegfried, diesen wackeren Helden, würde bald ein gewaltsamer Tod ereilen. Warum wäre ihm wohl sonst beim Bad im Blut des Drachen ein Lindenblatt auf die Schulter gefallen? Und doch, als es so weit war, als der Speer des Hagen den Helden durchbohrte, traute sich keiner der Zuhörer zu atmen. In den kleinen Sprechpausen, die der Spielmann immer wieder einlegte, hätte man eine Nadel fallen hören. Nur die Töne seiner Laute hallten noch lange nach.
Mathäus, der Dorfherr von Merode, starrte gebannt in das kecke Gesicht des Spielmanns, dessen Kinn von einem spitzen Bärtchen geziert war. Der Spielmann stand auf einem hölzernen Podest neben der Eingangstür; mit ausdrucksvoller Mimik schilderte er, wie Krimhild die Hunnenkrieger zum Kampf gegen Hagen von Tronje anstiftete.
Ohne die Augen von dem Spielmann abzuwenden, griff der Dorfherr nach der Kanne mit Bier, musste jedoch feststellen, dass seine bäuerlichen Tischgenossen diese bereits restlos geleert hatten. An Nachschub war nicht zu denken. Leo, der Wirt, stand mit offenem Mund hinter seinem Schanktisch und lauschte andächtig den Worten des Spielmanns. Ein Ausschank neuen Bieres hätte den Vortrag nur gestört, außerdem hätte der Wirt sich
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