Mörderische Kaiser Route
Ob der angehende Priester die blutjunge Schülerin auf der Liebesinsel geküsst hatte? Oder sogar mehr? Die Fragen durften zumindest gestellt werden, meinte ich, auch wenn sie vielleicht nicht in das moralische Weltbild von Mädchengymnasium und Priesterseminar hineinpassten.
Ob ich Antworten auf diese Fragen erhalten würde, das war eine andere Frage, die mir auch Schulz nicht beantworten konnte. Mein Freund war ziemlich aufgebracht, als er ins Hotel zurückkam.
„Ich habe immer geglaubt, die Westfalen sind ein stures Volk. Aber der Schlingenhagen übertrifft sie alle“, schimpfte er, während er wütend durch unser Zimmer stapfte. „Der sitzt während seiner Vernehmung die ganze Zeit über stumm wie ein Fisch auf seinem Schemel und schüttelt den Kopf. Der sagt noch nicht einmal, ob er unschuldig ist.“
Dieter sah aus dem Fenster hinaus auf die Straße. „Ich weiß nicht, wie ich dem helfen kann.“
„Kann es nicht sein, dass Franz Schlingenhagen sich an ein vermeintliches Beichtgeheimnis hält?“, fragte ich nachdenklich. „Vielleicht glaubt der junge Mann in seiner religiösen Art, gegen die Regel seines eigenen Standes zu verstoßen, wenn er sich äußert.“
„Komisches Beichtgeheimnis“, hielt mir Dieter ungehalten entgegen. „Inzwischen hat die Obduktion ergeben, dass das Mädchen schwanger war. Aus falsch verstandenem Schamgefühl hat Schlingenhagen seine kleine Freundin umgebracht, so stellt sich für den Staatsanwalt der Sachverhalt dar, und der Richter hat keine Bedenken, ihm zu folgen.“
„Das heißt also“, folgerte ich nüchtern, „dass Schlingenhagen derzeit im Bau sitzt und gegen ihn wegen Mordes ermittelt wird?“
„So ist es“, bestätigte Schulz, der seufzend zum Telefon griff. „Ich glaube nicht, dass dieses Zwischenergebnis den alten Schlingenhagen begeistern wird.“ Es gäbe eigentlich nur eine Hoffnung, um den Junior aus der U-Haft zu bekommen. „Das Bistum muss sich für ihn einsetzen und ihn unter Hausarrest stellen. Der Haftrichter würde sogar mitspielen. Jetzt warten wir alle auf die Entscheidung des Bischofs. Wir hoffen, dass er sich morgen erklärt.“
Schulz suchte in seiner Brieftasche nach dem Zettel mit der Aachener Rufnummer von Schlingenhagen, die er mit Unbehagen eintippte.
Ausführlich schilderte er seine Bemühungen, die bedauerlicherweise noch zu keinem positiven Ergebnis geführt hätten. Selbstverständlich, so versicherte Schulz dem Industriellen, würde er so lange in Paderborn bleiben, bis der Fall geklärt sei. Selbstverständlich, so fügte er beflissen hinzu, würde er sich für eine baldige Freilassung des Sohnes einsetzen.
Ich sah meinen Freund skeptisch an, als er sich nach dem unerfreulichen Telefonat ermattet in einem Sessel niederließ. „Glaubst du etwa im Ernst an eine Freilassung?“
„Nein“, antwortete Dieter ehrlich, „aber wir sind es unseren Mandanten schuldig, dass wir uns nach bestem Wissen und Gewissen für sie einsetzen.“
„Mit anderen Worten“, so nörgelte ich, „wir können uns unsere Tour zunächst einmal abschminken und hocken hier mitten in der westfälischen Wildnis, bis sich Schlingenhagen junior wieder in der Obhut der katholischen Kirche befindet. Oder willst du etwa so lange warten, bis ihm der Prozess gemacht wird?“
Dieter lachte gequält auf.
„Natürlich nicht, Tobias. Spätestens am Dienstag machen wir uns vom Acker.“
Diese Aussicht war nicht gerade erbaulich. Und sie wurde nicht besser nach unserem abendlichen Bummel durch das Studentenviertel in Paderborn. Dagegen herrschte in Aachen das pulsierende Leben, hier wurden offenbar mit Sonnenuntergang selbst in den Studentenkneipen die Stühle hochgestellt.
Wie wir es hier bis Dienstag aushalten sollten, ohne vor Langeweile gestorben zu sein, war mir ein Rätsel. Die studienfreie Sommerzeit als Argument für die Leere in den Gastwirtschaften ließ ich nicht gelten.
„In Aachen herrscht das ganze Jahr über Hochbetrieb“, behauptete ich. Ziemlich frustriert zogen wir uns weit vor Mitternacht auf das Zimmer zurück.
Wie es mit einem Gute-Nacht-Gebet wäre, schlug ich Dieter vor, als wir in den Betten lagen. In Paderborn wäre eines sehr beliebt. Er würde es bestimmt kennen, immerhin stammte es von der Namensgeberin einer Realschule in Aachen, die in Paderborn ihren Lebensabend verbracht hatte. „Oder weißt du etwa nicht, dass Luise Hensel das Gebet ,Müde bin ich, geh’ zur Ruh’ gedichtet hat?“, fragte ich meinen Freund
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