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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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gedacht, nicht gedacht, nicht. Ich habe an Mörike gedacht,

    wie er den alten Scardanelli besuchte: Die jungen Dichter werden von den Geheimnissen angezogen, die hinter dem Scheitern eines mit Genialität ausgestatteten Lebens stecken (den alten reicht ihr eigenes Pech). »Mein junger Freund«, sagte Hölderlin zu ihm (Holunder und Wacholder an all den holden Hängen des ganzen Neckar entlang spitzten ihre Ohrenblätter, um ihren Namensvetter besser hören zu können), »nimm dir mein Schlüsselbein, ich werde sowieso bald sterben, was soll ich mit zwei Schlüsselbeinen. Der Scardanelli braucht keins, dem Holder wurde längst alles weggenommen.« Mörike (er war gerade in die vergebliche Liebe seines Lebens verliebt und durchschaute viele Geheimnisse, wie jeder, der die stärkste Verliebtheit seines Lebens gerade erfährt) begriff: In diesem Schlüsselbein ist die dichterische Kraft eingeschlossen. Er nahm sich zusammen, seinen ganzen Willen, und riss aus seinem Körper sein eigenes Schlüsselbein, warf es aus dem Fenster in den bläulich silbernen Neckar und steckte sich an seine Stelle das Schlüsselbein des armen Holder.
    Der Enterich ist aufgetaucht, keine vier Sekunden sind vergangen.

    Mörikes eigenes Schlüsselbein, das ebenfalls die dichterische Kraft einschloss, blieb in den tränenden Ästen einer Hängeweide stecken. Später hat ein Habicht es gefunden und in die Schwäbische Alb verschleppt.
    6.
    Nach so viel Frische und Kälte ist die Wärme angenehm und unangenehm zugleich. Franziska schaut die Menschen an, schaut eine Kellnerin an, überlegt, ob die Kellnerin Martin gefallen würde (kleines eifersuchtartiges Prickeln im Sonnengeflecht), schaut den Wirt an, ob er die Kellnerin mit Lust ansieht, denn Martin meint, dass alle sowieso immer Lust meinen, wenn sie kommunizieren. An den Nachbartisch wird ein Servierwagen mit einer gebratenen Gans gerollt.
    Der Wirt beginnt die Gans zu tranchieren. Mit einem schmalenlangen Messer und einem einer Stimmgabel ähnlichen Zweizack. Schick und geschickt. Geflügelschere liegt bereit. Die Keulen werden abgelöst. Die Szene verlangt nach Publikum. »Pfaffenschnittchen!«, verkündet der Wirt. Flügel beiseite. Honiggold. Kaffeebeige. Karamellglanz. Schlüsselbein. Fallblattbraun. Auch das übrige Fleisch von den Knochen abgelöst. Der schmale Flügel, einem menschlichen Schlüsselbein ähnlich, weggenommen. Franziska, die nicht einmal die flämischen Stillleben anschauen kann, ohne dass ihr übel wird und sie danach von den herausfallenden Eingeweiden der Hirsche und dem Gekröse der Fasanen träumt, kann ihren Blick von der dummen Gans nicht abwenden.

    Und Mörike, denkt Moritz, schrieb die Peregrina-Gedichte. Doch irgendwann wollte er sein altes Schlüsselbein zurück. Er befrachtete einen Kahn samt Ruderer und fuhr in den Vollmondnächten über den Neckar. Er fischte vieles aus dem Wasser, was er im Mondschein für sein Schlüsselbein hielt: Vogelknochen, mit Schlamm überzogene Stäbchen, leere Parfumflakons, Brieföffner aus Elfenbein. Einmal zog er ein menschliches Schlüsselbein heraus. Aber das war nicht seins. Seins war in den tränenden Ästen einer Hängeweide gefangen.
    Franziska steht auf und geht auf die Toilette.
    »Wann noch mal fliegst du nach Amerika?«, fragt Andreas, weil er das wieder vergessen hat, ihn aber Laura per SMS fragte, was er am übernächsten Wochenende vorhabe.
    »Habe ich dir nicht gesagt? Ich fliege diesmal nicht. Erst im Frühjahr. Da bin ich zu einer Konferenz eingeladen, auch Fjodors Buch wird übrigens da vorgestellt«, sagt Marina.
    »Ist euer John Perlman ein Spion gewesen, damals, als ihr euch alle in Leningrad kennengelernt habt?«, sagt Moritz.
    »Du hast Ideen! Warum?«, sagt Andreas.
    »Nun ja, es gab viele damals, die Spione waren«, sagt Moritz.
    »Auch dein Vater?«, sagt Marina.
    »Du?!« sagt Moritz. »Nein! Das waren eben die Amerikaner, die Spione waren.«
    Andreas geht vor die Tür rauchen.
    »Sag mal, und hätte man euch damals verhaftet beim Trampen? Als mein Vater und John aus Versehen in die Sperrgebiete kamen? Was wäre dann passiert?«, fragt Moritz, dem Marina von einer Autostoppreise durch fast die ganze Sowjetunion kurz vor dem Zerfall der Supermacht erzählt hat.
    »Das war so eine Zeit, man konnte einem Milizionär oder Grenzer einfach eine Handvoll Dollar geben. Mit Westgeld konnte man alles kaufen. Einen Traktor, wenn du einen gebrauchen konntest. Einen roten Stern von einem Kremlturm. Keine Ahnung.

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