Mörikes Schlüsselbein
las, entrüstete ihn. Er traf an diesem Tag ein paar politische Entscheidungen, die er sonst nie getroffen hätte. Er nahm die Schrift zu sich. Danach verliert sich ihre Spur. Ein alter Freund von uns, ein Sinologe aus St. Petersburg, hat von seinem Lehrer einige Blätter aus dieser Schrift erhalten, allerdings nicht die Originale. Nur die Übersetzungen, die diesem verdienten Mann, dem Lehrer unseres Freundes, seinerzeit der letzte Kaiser von China anzufertigen erlaubt hatte. Wir haben versucht, sie aus dem Russischen ins Deutsche zu übersetzen. So entstand die folgende kleine Sammlung von Erzählungen.
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SELBST AUF DEN FIFTH AVENUEEN/WO DIE BISONS HIN UND HER FEGTEN
– selbst auf den Fifth Avenueen
fällt Sie die Leere an –
(Gottfried Benn)
SELBST AUF DEN FIFTH AVENUEEN / WO DIE BISONS HIN UND HER FEGTEN
Ein betrunkener Mensch ist traurig und leicht. Seine persönlichen Dämonen sind verlangsamt und beschwichtigt. Sie nehmen ihn sanft bei der Hand und schweben mit ihm über seine Sorgen und über das Wissen, dass er verloren ist, hinweg. Kann aber auch sein, dass die persönlichen Dämonen eines betrunkenen Menschen auf einmal schnell und unterhaltsam werden und ihren Schwindeltanz anheben. Dann folgt der betrunkene Mensch in seinen beschwipsten Gedanken ihren Gesängen und Gebärden mit einer Geschwindigkeit, die er sonst nie erreichen würde. Sie bemühen sich also um ihn mit ihrem Singsang und Getanze, und in ihrem Gelaber und Gehopse zeigen sich Bruchstücke der Erkenntnis, die sich sonst nicht zeigen – dachte der nüchterne Fjodor in Vorahnung des ersten Glases des Abends. Zugleich dachte er an eine SMS seiner Frau, er solle sie anrufen, sie wolle ihm etwas sagen, aber er konnte sie nicht erreichen, nicht zu Hause, nicht am Taschentelefon (das war Marinas Wort, das er lustig fand).
Die nüchterne New Yorker Subway ähnelte mitnichten Fjodors Vorstellung von einer U-Bahn. In Petersburg kannst du zwei oder drei oder gar vier Seiten in einem Buch lesen, bis dich die Rolltreppe nach unten zu den unterirdischen Kronleuchtern und Mosaikwänden gebracht hat. Hier machst du ein paar Schritte eine gewöhnliche Treppe runter und bist bereits in der unspektakulären Unterwelt (so unterscheidet sich wohl die russisch-orthodoxe Prachthölle von dem dezenten Protestantenorkus). Nur die Sitzplätze die Waggonwände entlang, wo eine Reihe der Fahrgäste die gegenübersitzende Reihe vor sich hatte und sich Mühe gab, sie nicht zu betrachten (nach unten schauen, Handy-Displays anstarren, dösen usw.), waren wie zu Hause. Noch tiefer, unter den Gleisen, in den Gängen der unteren Unterwelt, lebten bekanntlich die Krokodile. Fjodor nickte ein (die Krokodile fletschten begrüßend ihre Zähne) und verpasste die Grenze zwischen unten und oben. Als er die Augen aufschlug, bewegte sich über den Köpfen der gegenübersitzenden Passagiere eine rostfarbene städtische Landschaft. Plötzlich huschte Ozean zwischen den Backsteinzeilen.
Er dachte an das Schwarze Meer, das von seiner nördlichen Stadt zweieinhalb Tage Zugfahrt entfernt war. Als er das erste Mal zum Schwarzen Meer gefahren wurde, hatten ihm seine Eltern ein grandioses Schauspiel aus dem Zugfenster versprochen. Als er endlich die verwaschene Ferne sah, war er in seinen Erwartungen enttäuscht. Später lernte er, dass die Sinnesorgane für eine erste Begegnung mit einer außerordentlichen Erscheinung oft nicht justiert sind und deshalb deren Bedeutung erst mit Verzögerung erkennen. Als Fjodor zum Beispiel das erste Mal seine zukünftige Frau gesehen hatte, Natascha, wurde sie ihm von seinen Sinnesorganen als ein gewöhnliches Mädchen aus der Provinz gezeigt.
SELBST AUF DEN FIFTH AVENUEEN / WO DIE BISONS HIN UND HER FEGTEN
Der Regen, fast kein Regen mehr, sondern ein Sprudelnebel, in das Riesenglas Amerika eingeschenkt. Chicago-Airport wirkte nahezu bescheiden – nach den verglasten oberirdischen Strecken des Frankfurter Flughafens, wo du in der Shuttlebahn wie im Inneren eines durchsichtigen Flussbettes strömst, nach seinen Labyrinthen mit den selbstlaufenden Pfaden, die beidseitig von Unendlichkeiten umgeben sind, die mit ihren Luxus- und Groschenwaren leuchten; mit den Strumpf-, Wirk-, Sport-, Gold- und Silberwaren; mit den Trink-, Wurst-, Würz-, Kurz- und Zuckerwaren; mit den Gieß-, Wachs- und Schnitzwaren; mit Modeschnack und Miederschmuck; mit Rauchwaren und Rauchzeug; mit Webwaren in beiden Bedeutungen des Wortes.
Marina wurde von Professor
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