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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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letzten Zeit pflegte (oder nicht pflegte, sondern einfach nicht anders konnte).
    »Fragen wir jemanden?«, sagte Marina eine Spur zu munter, wie sie es immer tat, wenn sie mit Andreas’ Kindern sprach. Aber niemand war da, außer ihnen vier.
    Andreas blieb teilnahmslos. Sie verließen den Stifthof.

    ♦

    Franziska hört nicht mehr, was Marina über Erinnas braune Locke sagt, sie denkt auch nicht an das Schlüsselbein, zerstreut von Schaufenstern mit buntem Glas, bestickten Kleidern, antiken Möbeln, gestrickten Handschuhen, mit allem, was beim Kauf so lebendig aussieht und zu Hause sofort eingeht, schneller als Schnittblumen.
    »Schau, Franziska, das Stirnband, hübsch, wäre das was für dich? Damit dir deine Ohren nicht abfrieren.«
    »Nein, danke, Marina, ich mag es nicht, wenn die Ohren zugedeckt sind, es drückt, und ich höre die Autos nicht.«
    »Na gut. Wie du meinst. Es sind schließlich deine Ohren.«
    Marinas Schuh bleibt mit dem Absatz zwischen den Katzenköpfen des Pflasters stecken. Ihr unbeschuhter Fuß spürt die kalte Nässe. Sie zieht den Schuh heraus, die Farbe am Absatz ist abgeschürft.
    »Deine Eurocentabsätze!«, sagt Moritz.
    »Nicht schlecht«, sagt Marina. »Hast du das selbst erfunden?«
    Ja , will Moritz lügen, sagt aber dann: »Nein, in der Schule gehört.«
    »Lustig«, sagt Marina.
    Moritz stolpert über einen Katzenkopfstein. Stolpert zum Ausgleich mit dem anderen Fuß darüber, aber (Shit!) mit etwas mehr Kraft als beim ersten Mal. Wenn man das nicht in Ausgleich bringt, passiert etwas Schlimmes, denkt Moritz, nein, Blödsinn, denkt Moritz, und stößt mit dem ersten Fuß ganz leicht gegen einen Stein und nur noch federleicht mit dem zweiten. Von einer Platane schwebt eine braune Taubenfeder herunter und bleibt auf dem grauen Stein liegen, gleich einer Locke.
    2.
    Eine Frau im Vorbeigehen, laut: »Du musst arbeiten gehen, dann wirst du selbst dein Kleingeld haben. Nein, nein, Schatz, das sage ich der da, dass sie arbeiten gehen muss, dann wird sie ihr Kleingeld haben, na der da, ach nichts, nein, die da, weißt du, sie muss arbeiten gehen, dann wird sie ihr Kleingeld haben, ach nichts, vergiss es.«
    Hat das Volk bereits Kleingeldwahnvorstellungen , denkt Marina. Aber um die Ecke sieht sie zwei Mädchen auf ausgebreiteten Decken sitzen. Sie strahlen Unbekümmertheit aus und Ungebundenheit, die Marina immer wollte und nie gewagt hätte. Gefirnisste Buntschöpfe, gestreifte Strümpfe mit pittoresken Löchern, unter denen weitere Strumpfschichten zu sehen sind, silberne Kunstwarzen am Kinn, an der Oberlippe und die Augenbrauen entlang, sie lachen, sie rufen Marina zu: »Hast du etwas Kleingeld für uns?«
    3.
    Moritz sieht aus dem halbrunden weißen Hölderlinzimmer nach unten: Schwäne. Neckar. Weiden. Das Wasser weidet die Reste des Laubs ab. Die Weidenruten widerstehen dem Fluss.
    Moritz liest jedes Blatt an den Wänden und in den Vitrinen. Franziska wartet draußen. Andreas wartet draußen. Marina geht hinunter und hinaus. Moritz misst das halbrunde Hölderlinzimmer: zehn Schritte die weiße Wand entlang, fünfzehn Schritte um den Bogen mit den Fenstern zum Neckar. Andreas ist gereizt, dass Moritz wieder hängen geblieben ist. Franziska telefoniert mit Martin, ihrem Freund. Marina zündet sich eine Zigarette an. »Ich bin hungrig«, sagt Andreas. »Ich auch«, denkt Marina. »Du nervst«, sagt Franziska ins Telefon.
    4.
    Eine Schildpatt-Katze läuft über das vom Raureif steif gewordene Gras auf drei Pfoten, die vierte fehlt. Sie läuft nicht ohne Grazie, nur leicht hinkend. Marina denkt an die hinkende Mätresse von Ludwig XIV., Louise de la Vallière, weil sie, wie ausnahmslos alle Russen, als Kind historische Romane von Alexandre Dumas dem Älteren gelesen hat. Und lange noch las sie einmal im Jahr »Die drei Musketiere«, jedes Mal in der Hoffnung, dass Constance Bonacieux gerettet würde, bis sie die Hoffnung endgültig aufgab.
    Moritz lacht: »Schlüsselbein! Schaut, von der haben sie das Schlüsselbein! Von der Katze, das ist ihr Bein!«
    »Oh Gott, Moritz«, sagt Marina.
    Franziska lacht.
    »Du hast Ideen!«, sagt Andreas.
    Moritz lacht.
    Nie zuvor, kein einziges Mal, hat Marina hören können, worüber Moritz und Franziska sprechen, bevor sie auflachen. Sie waren immer eine Spur zu weit entfernt.
    »Ha-ha-ha!«
    «Ha-ha-ha!«
    Im Gleichklang, hell, etwas theatralisch, sie fangen synchron an und hören synchron auf. Franziska in dicken Strümpfen über langen geraden

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