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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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seine Mutter gewartet und gedacht hatte, sie komme nie wieder, konnte er das Klappern ihrer Lackschuhe von allen anderen unterscheiden und dann den fadenscheinigen Stoffhasen in den Sandkasten fallen lassen und sich umdrehen – es war jedes Mal sie gewesen! Später gab es ein Mädchen in der Schule, von dem er heute kaum mehr wusste, als dass es schwarze Schuhe mit weißem Perlmuttknopf hatte. Lange Zeit schienen alle Frauen weiche lautlose Schuhe zu tragen, bis sogar zwei in den Bereich seiner Aufmerksamkeit traten, die laut stöckelten. Wenn ein sehr junger Mensch (ein Kind) beginnt (als Andreas als Kind begann), Gedichte zu lesen, weiß (wusste) er überhaupt nicht, wie sie (literaturgeschichtlich) einzuordnen sind (waren). Später, falls man später zur Literaturgeschichte kommt (als Andreas zur Literaturgeschichte kam) sagt man (sagte Andreas) sich: »Ach, das war das!«
    Genau so ist es mit den anderen Lebenseindrücken, die früher kommen als das Verständnis für sie. Erst später sagt man sich: Ach, das war das!

    Vorgestern hat er sich in der Mensa zu einem leisen Klipp-Klapp umgedreht, schon in der Drehung wissend, dass es Laura sein wird. Und das war sie. Streichholzmädchen, mit langem Körper und rundem dunklem Kopf; mit etwas herabgelaufenem Schwefel am Nacken seines Zündkopfs: das dunkle Haar stramm zum Nacken gezogen. Und in Spangenschuhen mit breiten Absätzen.

    Nun aber war es Marina, das war ohnehin klar, dass sie das war: Im ganzen geräumigen Stifthof waren nur vier Paar Schuhe, seine eingeschlossen, und nur Marina konnte das Klipp-Klapp verursachen, Franziska hatte ihre weichen Chucks an, die eigentlich zu dünn für diese Jahreszeit waren. Und Moritz hatte normale Männerschuhe.
    »Hör mal, Andreas, braucht Franziska nicht vielleicht doch eine Mütze? Bei diesem Wind. Sie friert, schau.«
    »Das hättest du Sabine sagen sollen, bevor wir losgefahren sind. Siehst du nicht, sie ist ohnehin genervt. Sie hat wohl wieder ein Drama mit ihrem Freund, und da kommen wir mit unserem dummen ›du solltest dich wärmer anziehen, Schätzchen!‹ Was soll ich machen?«, sagt Andreas.
    Marina lacht und sagt: »Ja, nach dem Motto ›Setz die Mütze auf, ich friere!‹ Na gut«, sie sagt nicht, dass es eigentlich Andreas ist, der Sabine hätte fragen sollen, schließlich ist Sabine seine und nicht Marinas gewesene Frau. »Wie du meinst. Sie ist schließlich dein Kind.«
    War es eine gute Idee, fürs Wochenende nach Tübingen zu fahren? Mit Marina und den Kindern? Sie scheinen sich immerhin gut zu verstehen.
    Wieder Stöckelschuhe, aber jetzt nicht mehr so gut hörbar, weil die dazugehörige Gestalt (Marina) bereits vor ihm ist, das Bild dämpft den Klang: klein, zierlich, damenhaft angezogen, Pfennigabsätze. Es geht ihm, als hätte er einmal ein Mädchen in Sneakers, Jeans und T-Shirt gesehen und das nächste Mal eine Frau in Kostüm und Pumps. In der Zeit dazwischen liegt ihr Leben, das nichts mit seinem Leben zu tun hat. Neben ihr Franziska, die Stöckelschuhe hasst, weil sie ihre Größe noch nicht zu schätzen weiß und in ihrem Körper noch unsicher ist. Komisches Bild. So klein die eine. So groß die andere.

    Marina bleibt im Bogendurchgang zum Kreuzgang des Stiftes stehen. Vor einer Vitrine linker Hand.

    ♦

    »Franziska, schau mal!«, sagte sie und bereute fast, dass sie das einem so sensiblen Mädchen wie Franziska zeigte: Im Schaufenster leuchtete opak das Schlüsselbein von Eduard Mörike. In einer Glas- oder Plastikschachtel. Mit einem Zettel versehen:

    Überraschend viele Abtönungen von Cremebeige, Aschgrau und Honigbräunlich für ein schmales und nicht sonderlich langes Stück Bein auf einem bordeauxfarbenen Tuch.
    Als Marina den angewiderten Blick des Mädchens sah, begann sie, um es abzulenken, von Mörike zu erzählen, alles, was sie noch wusste, dass er einer der vielen berühmten Schüler des Tübinger Stiftes gewesen war, dass sie einmal eins seiner Gedichte ins Russische übersetzt hatte, für eine Semesterarbeit über »Todesangst und Romantik«. Das Gedicht hieß »Erinna an Sappho«:
    Dass du zu früh dir nicht die braune Locke mögest
    Für Erinna vom lieben Haupte trennen –
    sprach die Poetin Erinna, nicht ahnend, dass ihr eigenes Los war, 19-jährig zu sterben. Dann dachte Marina, dass Franziska gerade 19 war.
    »Was soll das, wurde er heilig erklärt, und nun bietet der Pragfriedhof seine Gebeine feil?«, sagte Moritz in dem leicht sarkastischen Ton, den er in der

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