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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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ihre Blütenblätter zu geeigneter Zeit nicht fallen ließen, lassen sich jetzt vom Schneestaub die Nase pudern und halluzinieren den Sommer.
    Der Reststaub aus dem erheiterten Himmel. Die Mittagssonne fällt auf einen Fünfzigeuroschein, den sein Zimmernachbar auf dem Betttisch hat liegen lassen, für morgen: Er wird (wie auch Professor Bach) morgen entlassen, und der Schein ist für die Krankenschwestern, für die Kaffeekasse. Die Frau seines Zimmernachbarn, eine energische, aparte Dame um die siebzig, meinte, er solle ihn bis dahin wieder in seine Brieftasche stecken. Er stimmte ihr zu, vergaß das dann wohl.
    Das ist das, wonach ich suche! , denkt Professor Bach.
    In dem blanken Winterlicht sieht er eine sonst nicht sichtbare Grenze zwischen zwei Welten: der Welt des Bürgerlichen und der Welt des Vogelfreien (sein Professorenverstand protestiert gegen die Ungenauigkeit der beiden Begriffe, während sein ungebundener Doppelgänger darauf pfeift). Er schreitet in eine andere Dimension. Er empfindet eine elementare Verachtung für Menschen, die in ihren Wohnungen und Häusern leben, Geld verdienen , von dem verdienten Geld ausgehend ihr Leben einrichten, reisen, Autogenes Training betreiben, Ausflüge in die Natur unternehmen, sich abends ein Glas Wein gönnen, Kochkurse belegen, sich kontemplativer Gartenarbeit widmen.
    Er nimmt den Geldschein, und durch die Berührung mit dem harten Papier (Flügel eines Käfers, Grundschüler Bach winkt aus einem Sommerwald und steckt einen ihm noch unbekannten Käfer in eine Streichholzschachtel) kommt er wieder auf seine Seite der Welt, wo ein Dieb ein verhasstes und verachtetes Arschloch ist, das skrupellos in das Leben von ohnehin durch Sorgen und Ängste geplagten Menschen einbricht.
    Er stellt sich den (vermutlich minderjährigen osteuropäischen, laut Polizei war eine solche Gruppe in der Stadt unterwegs) Dieb vor, der vor ein paar Jahren seine Wohnung ausräumte: Wie er die Tür lautlos öffnete, wie er aus dem dunklen Flur ins Wohnzimmer trat, das vom Sonnenlicht durchschossen wurde, wie er dort stand, als wäre er kein kleiner mieser Dieb, sondern ein Kaiser in einem frisch eroberten Land: erwartungsvoll. Wie ihn Zorn ergriff, als er kaum etwas außer Büchern vorfand. Wie lustvoll seine Wut war, als er das alte Notebook zertrampelte und alles vom Schreibtisch auf den Boden warf, die schwere Vase mit Rosen, die Marina wer weiß wozu auf den Tisch gestellt hatte, landete auf dem ohnehin beschädigten Notebook, aus dem der Computermann später keine einzige Datei retten konnte. Professor Bach, der folglich das erste Kapitel seines Buches über die Deutschen im Russland des 19. Jahrhunderts neu schreiben musste (Marina meinte, es sei noch besser geworden) war dem Schuft nicht nur egal, er war für ihn nicht real. Unwirklich. Und nun war Professor Bach für eine Sekunde gleichzeitig auf beiden Seiten der Grenze zwischen den beiden Welten, Raubvogel und Geflügel zugleich. Als diese Sekunde vorbei war, blieb nur die Scham. Und – nur ein wenig, weil unwahrscheinlich – die Angst, dass man ihn bloßstellen würde.
    Gut, gut , denkt Professor Bach, ich kann den Schein jetzt ruhig zurücklegen, ich habe alles davon, was davon zu haben war.
    Die Türen gehen lautlos auseinander und ein Pfleger schiebt den Rollstuhl mit dem Zimmernachbarn herein. Der alte Mann kann gut laufen, ist aber zu langsam für die ungeduldige Routine des Krankenhausbetriebs. So rollt man ihn, wenn er woanders untersucht werden muss.
    Zum Glück hat sich Professor Bach vom Betttisch seines Nachbarn entfernt und steht wieder am Fenster. Er zuckt zusammen, aber – keine Atemnot, kein Schwindel, kein Zittern, nichts von dem, wovor er fast ständig Angst hat. Hat es funktioniert? Nicht schlecht fürs erste Mal! Aber nun hat er ein Problem: Das Geld muss zurückgebracht werden. Bevor man sein Fehlen bemerkt.

    Nachts hat es wieder geschneit (zu früh, eigentlich, es war noch Herbst, und man rechnete noch mit ein paar warmen Wochen). Das heißt, das wird sich auch heute wiederholen: Das trockene, noch nicht verkrustete Weiß wird unter den Sohlen knirschen. Wie gestärkte Wäsche, hatte er gestern gedacht und dachte es wieder. Der frische Schnee aus der Kommode. Seine Mutter legte viel Wert darauf, dass die Bettwäsche ordentlich gebleicht, gestärkt und gebügelt wurde. Er weiß noch, wie sich der kühle Stoff des Kissenbezuges auf der Wange anfühlte. Irgendetwas hat sie mit der Wäsche gemacht, was keiner

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