Mörikes Schlüsselbein
zur Kenntlichkeit ihrer Sechseckigkeit. Plötzlich bekam er wieder keine Luft mehr. Er setzte sich auf eine Gartenbank. Er könnte sich genau so gut in einen Schneehaufen setzen. Vielleicht war das auch ein Schneehaufen, den er für eine Gartenbank hielt. Er zitterte, als fließe das Blut in seinen Adern im engen Zickzack. Er hob seine Hand und schaute sie an: Die Finger blieben ruhig, sogar das Zittern war nur seine Einbildung.
Steh auf. Sonst wirst du zu einem Schneehaufen in Form eines Professor Bach.
Aha, das wäre das dann – ein Schneehaufen werden. Das wäre das, was er nie gemacht hat und nie vorhatte zu machen. Zu einem Schneehaufen werden – niemand wird dich finden, niemand wird dich begraben müssen. Dann kommen Kinder und machen einen Schneemann aus dir. Dann kommt der Frühling und macht eine Pfütze aus dem Schneemann. Dann kommt die Sonne und macht Dampf aus der Pfütze. Dann kommt der Herbst und macht eine Wolke aus dem Dampf. Dann kommt der Winter und macht Schnee aus der Wolke. Dann kommen Kinder. Du aber wirst nicht mehr sein.
Steh auf.
Wäre ein Bordellbesuch geeignet? Das wäre immerhin etwas Neues. Das fremde Reich betreten, das nur jenseits deines Lebens existiert. Für dich also nicht real ist. Unwirklich. Nicht wissen, was wie wem sagen, wie groß das Trinkgeld an der Theke (am Tisch?) sein soll. Sich eine Frau aussuchen, die Dienst leistet, der viel persönlicher als eine normale Dienstleistung, zugleich aber viel unpersönlicher als der Dienst einer, sagen wir, Kellnerin ist ( du hast zu viel russische Literatur gelesen , sagt sich Herr Professor Bach und denkt an seinen amerikanischen Freund, Professor Perlman, der ihm erzählt hat, wie in den USA die ins Alter gekommenen Prostituierten zu Pflegerinnen umgeschult werden, wofür sie gut geeignet sind, sie sind ja gewohnt, sich mit alten unschönen Körpern zu befassen, alles schnell und freundlich zu erledigen).
Steh auf.
Was ginge noch, was würde der Therapeut gutheißen?
Warum gehen die Vorstellungen vom Außergewöhnlichen in diese Richtung? Warum nicht etwas Gutes tun? Etwas außergewöhnlich Gutes.
»Einer meiner Patienten ist für ein paar Stunden betteln gegangen«, sagte der Therapeut. »Die erfrischende Wirkung war gewaltig, er konnte kaum aufhören, darüber zu sprechen. Aber er ist ein junger Mann, ein Schauspieler dazu, und, ich vermute, ein Lebenskünstler hauptsächlich. Ihnen rate ich das selbstverständlich nicht, Herr Professor. Versuchen Sie es als erstes mit einem Fallschirmsprung.«
Was soll das? Warum nicht? Bin ich etwa schon so alt, dass man mir betteln gehen nicht zutraut? Würden die anderen, die echten Bettler mich verjagen?
Marina erzählte, dass es in Indien einen Lehrer gab, der seine Schüler, und das waren junge Männer aus aristokratischen und wohlhabenden Familien, betteln schickte. Sie sollten im Unangenehmen erfahren werden. »Ich war einmal mit einer Freundin trampen, wir haben das gemacht. Das ist unglaublich. Du bist nicht mehr du. Irgendwer bist du schon, aber nicht du. Das ist eine andere Dimension. Ich würde diese Erfahrung weder missen noch wiederholen wollen.«
Steh auf. Sonst wirst du zu einem Schneehaufen, zu einem Schneemann, zu einer Pfütze, zu Dampf, zu einer Wolke.
5.
Als Professor Bach vor seinem Krankenzimmer ankam, gingen die Türen lautlos auseinander, und zwei Pfleger rollten das Bett mit der abgedeckten verlassenen Puppenhülle aus zerknülltem Pauspapier heraus. Was sollte er nun mit dem Fünfzigeuroschein?
Marina hat vielleicht doch recht mit der Zusatzversicherung , dachte Professor Bach und wollte plötzlich Marina sehen, mit ihr sprechen, sie berühren. Einen lebenden Körper berühren, die Haut, unter der das Blut noch fließt. Aber er war allein im geräumigen Krankenzimmer und dachte, dass alle Menschen, die er kannte, ganz gut ohne ihn zurecht zu kommen in der Lage waren, dass sie ihr geheimnisvolles Leben weiter lebten, während er allein im geräumigen Krankenzimmer stand. Marina , dachte er, komm zurück. Komm jetzt.
Wieder gingen die Türen auseinander. Man rollte das neue, noch leere Bett herein: eine rechteckig geschnittene und mit Schnee bedeckte Rosenhecke aus dem Garten.
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MÖRIKES SCHLÜSSELBEIN
1.
Er konnte immer mit dem Nacken (das heißt mit den Ohren) die Stöckelschuhe erkennen, die ihn gerade angingen. Sich umdrehen und unfehlbar die erwartete Gestalt sehen, die zum jeweiligen Schrittrhythmus gehörte.
Als er im Kindergarten auf
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