Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten
Nicoleta, Todesangst im Blick keucht sie eine Wiese hinauf, wird langsamer und langsamer, der Waldrand liegt ein paar Meter vor ihr, die Verfolger sind nur noch wenige Meter hinter ihr, die Punschwolke, die ihnen vorauseilt, beginnt ihr den Sinn zu benebeln. Doch da, was sehe ich, Nicoletas schlanke Gestalt scheint sich zu verwandeln, sie reckt die Hände gen Himmel, als würde sie die Götter um Hilfe anflehen, feinzackige Blätter ranken sich, wo gerade noch Haare im Wind wehten, die ausgestreckten Arme, sie werden zu Holz, auf Holz beißen auch die Hunde, die nach Nicoletas Beinen schnappen, ein Stamm wurzelt plötzlich fest im Erdreich, wo gerade noch zwei Beine sich den Berg hinaufquälten, weiß und grau ist seine Rinde, und sanft wiegen sich die schlanken Äste im Wind, und die Verfolger, sie stehen unter dem Baum und blicken nach links und nach rechts, Wo ist sie hin, fragen sie und finden keine Antwort.
Auch Oma fällt zurück, die Auwälder an der Donau hat sie längst hinter sich gelassen, sie läuft über Felder und Wiesen, der Boden wird trockener, das Gras verdorrt unter ihren Schritten, Komm, ruft Tony ihr aufmunternd zu, er läuft ein paar Schritte vor ihr und lässt sie nicht aus den Augen, doch Oma ist erschöpft, sie wird langsamer und langsamer, die Meute hinter ihr lauter und lauter. Und da, mitten im Lauf, beginnt Omas Gestalt sich zu verwandeln, unter ihrer Stirn, da pocht es, an zwei Stellen bricht es hervor, zwei schlanke Hörner sprießen empor, braunes Haar wächst aus allen Poren, Oma strauchelt, sie stürzt, doch nein, sie läuft weiter auf allen vieren, Hände werden zu Beinen, Beine zu schlanken Fesseln, mühelos vergrößert sie plötzlich den Abstand zu den Verfolgern und springt ihnen mit Gazellensprüngen davon. Ungläubig staunend kommt die Meute zum Stillstand, auch Tony bleibt stehen und blickt Oma hinterher, und sein Körper beginnt zu zittern und zu beben, um seinen Kopf ist mit einem Mal ein mächtiger Haarkranz zu sehen, auch er sinkt nieder auf alle viere, auch ihm wächst ein Fell, ein braunes, er schüttelt sich, er brüllt, sodass die Verfolger vor Schreck zusammenzucken, und dann setzt er Oma hinterher. Die Gazelle wendet erschrocken das Haupt, als sie den Löwen hinter sich hört, Fürchte dich nicht, sagt der Löwe, und die Gazelle erkennt in seinem Blick, dass er ihr tatsächlich nichts Böses will, und mit weiten Sprüngen durchmessen sie gemeinsam die Steppe und genießen die neue Freiheit, und Oma braucht nie wieder Angst zu haben, vor den Löwen und vor Tony nicht und nicht vor der finsteren Nacht.
Die Straßenbahn fährt weiter im Kreis, Leute steigen ein und wieder aus und freuen sich darüber, dass man endlich unter sich ist. Das stimmt nicht, will ich protestieren, doch ich bin noch immer gefesselt und geknebelt, und niemand nimmt Notiz von mir. Da erkenne ich Kamal weit im Süden der Stadt, auch er hetzt durch die Steppe, die Steppe wird zur Wüste, Sand bremst seine Schritte und die seiner Verfolger, und trotzdem rücken sie immer näher. Kamal erreicht ein Wasserloch, Kamele stehen herum und trinken daraus, Kamal versucht, sich zwischen den Tieren zu verstecken, doch seine Verfolger sind zu dicht hinter ihm, um sich täuschen zu lassen. Und da beginnt plötzlich sein Hals zu wachsen, der Kopf, er dehnt sich in die Länge, auch Arme und Beine werden länger, Fell wächst auf ihnen, Kamal beugt sich hinab und trinkt mit großen Schlucken das Wasser, um Vorrat zu haben für die vielen Tage, die bis zur nächsten Wasserstelle vergehen werden. Seine Verfolger umkreisen die Kamele, einer sucht sogar im Wasser, sie können nicht verstehen, wie Kamal ihnen entwischen konnte. Kamal hat genug getrunken, am Rand des Wasserlochs wächst ein wenig Gras, mit weichen Lippen rupft er sich ein Maulvoll, und bedächtig kauend blickt er auf die nervösen Menschen rings um ihn.
Und überall sehe ich Flüchtende, auch wenn sie sich immer weiter von der Stadt entfernen. Ich sehe Afrim und Tomo, wie sie Richtung Mittag laufen, wie sie zunehmend ermüden, und wie sich plötzlich der eine in den anderen verwandelt: Afrim hat die Züge Tomos angenommen, Tomo die von Afrim. Sie bleiben stehen, ihre Verfolger kommen heran, umstellen die beiden, sie sind sich ihrer Beute sicher, lächelnd stehen Afrim und Tomo in der Mitte, der Kreis wird enger, die Meute streckt gierig die Hände aus, und da verwandelt sich Tomo wieder in Afrim und Afrim in Tomo. Erschrocken ziehen sich die Hände
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