Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten
meine Geschwister hat man umgebracht, mein Vater ist verschollen, ich habe mich aus dem Staub gemacht, keine besonderen Vorkommnisse, nicht der Rede wert, das Übliche eben.
Wie kommt es, dass du so viele Sprachen sprichst, Ali, Und so völlig ohne Akzent, Und Fehler macht er auch keine, so wundern sich meine guten Mitbewohner. Meine Mutter hatte eine Sprachschule, lautet die Antwort des Bildungsbürgers in mir. Mein Vater war Diplomat, wir sind jedes Jahr in ein anderes Land übergesiedelt, so spricht der Weltbürger. Der Kleinbürger gibt zu Protokoll: Ich habe immer brav und fleißig gelernt. Und als Bewohner jenes weiten Landes namens Poesie nehme ich die Leier zur Hand und beginne zu singen: Von Babylon da komm’ ich her, dort stand ein großer Turm, ich wohnte unter seinem Dach, bevor er fiel im Sturm. Und es staunen die Bauern, und die Hirten verharren in schweigender Andacht. Wie alt bist du, Ali, fragen sie dann weiter. Euch erstaunt wohl meine Reife und mein großes Wissen, Ihr Lieben? So ist es, antworten sie im Chor und harren meiner Worte. Da, wo ich herkomme, zählt man nicht die Monate oder Jahre, erkläre ich geduldig. Aber was steht in deinen Papieren? Auf Papier steht geschrieben, dass ich zu alt bin, um nur zu spielen, zu jung, um ohne Wunsch zu sein. Ratlos blicken sie mich an, die Lieben. Also gut, gebe ich mich geschlagen, wenn ihr darauf besteht, dann verrate ich es euch: Offiziell bin ich fünfzehn, inoffiziell einundfünfzig, was keinen Unterschied macht, denn Altersangaben sind, wie jeder weiß, kommutativ.
Melange- bis mokkabraun ist meine Haut, ich betone das noch einmal, damit es nachher nicht heißt, ich hätte es verschwiegen, Mohr im Hemd will ich, ich sagte es schon, und es wartet, auch das wurde schon erwähnt, viel Arbeit auf mich. Worin besteht diese Arbeit? Nun, meine Aufgabe ist es, den Geschichten meiner Mitbewohner hinterherzuspüren. Es sind Geschichten mit vielen exotischen Namen, die schwer zu merken sein mögen, Geschichten, so sei ausdrücklich gewarnt, in denen eindeutig die dunklen Kapitel überwiegen. Dunkel, weil viele Bewohner dieses Hauses Schlimmes erlebt haben; dunkel, weil manche nichts von sich preisgeben wollen; dunkel aber auch, weil nicht immer klar ist, ob sie die Wahrheit sagen oder sie zurechtbiegen und Dunkles erfinden, um sich zwecks Erlangung von Asyl in ein besseres Licht zu rücken. Ich, ich bin jedenfalls hier, um die Geschichten aufzuspüren, sie der Finsternis zu entreißen, um solcherart Licht ins Dunkel zu bringen, und zwar in jeder Hinsicht.
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Manche Geschichten muss man nicht suchen, sie finden einen. Schon früh am Morgen herrscht Aufregung im Haus: Im dritten Stock haben sie Salva, einen Mitbewohner aus dem Sudan, abgeholt, haben ihn davongezerrt, seine Frau hat geschrien und sich auf die Männer in Uniform geworfen, doch es hat nichts geholfen. Habe ich etwas getan, um diese Abholung zu verhindern? Ich muss gestehen: Nein, habe ich nicht. Ich lag in der wohligen Wärme meines Bettes, Mira, meine Göttin, ruhte im Traum an meiner Seite, ich blickte in ihre tiefgrünen Augen, ich griff nach ihrer Hand, ich – – – und da ging schon das Geschrei los und riss nicht nur Salva fort von seiner Frau und den zwei Kindern, sondern auch mich von Miras Seite. Als ich aufstehe und bettschwer Richtung Bad wanke, ist es längst zu spät.
Man wirft Salva vor, mit Drogen gehandelt zu haben. Stimmt der Vorwurf, wird man nun fragen, ich muss jedoch gestehen, ich weiß es nicht. Zu kurz bin ich erst im Haus, zwar weiß ich vieles, doch leider noch nicht alles. Ich habe daher auch keinen Trost für Salvas Frau. Man wird ihn wahrscheinlich, ob die Anschuldigungen nun berechtigt sind oder nicht, bald in ein Flugzeug setzen, vielleicht sogar in die Passagierkabine, wenn er brav ist, man wird ihn an den Sessel binden, ihm vielleicht Mund und Nase zukleben, damit er die Urlaubsstimmung ringsum nicht durch seinen Atem verpestet, und wenn er Glück hat, dann wird er lebend dort ankommen, wo man ihn ein Jahr zuvor totzuprügeln versuchte. Das klingt hart? Oder zynisch? Nun, man soll die Dinge beim Namen nennen. Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose. Schweinescheiße ist Schweinescheiße ist Schweinescheiße.
Offiziell – das habe ich bisher verschwiegen – gehöre ich ja zu den sogenannten UMF s, den Unbegleiteten Minderjährigen Flüchtlingen. Unsere betreute Wohngemeinschaft für derzeit zwölf Jugendliche liegt im vierten und letzten Stock des Hauses und
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