Momentum
Jedenfalls sprechen sie gern in Sentenzen, und ihre Erkenntnisse sammeln sich in einfachen Geschichten. Ein Alter sitzt neben mir auf einer Bank im Bahnhof und sagt:
»Als ich zum ersten Mal von zu Hause wegfuhr, sah ich mein Zuhause zum ersten Mal. Sah die Kirche, den Hügel, den Waldrand, hatte ein Bild und eine Vorstellung von dem, wo ich herkam. So geht es mir mit der Rolle, die ich im Leben einnehme. Man muss es lassen, um begreifen zu können, welche Rolle man spielte.«
Dass er mir das sagen möchte, beweist, dass er es noch nicht gelassen hat, das Leben.
Zweimal begegne ich dem Verkäufer im Zug, einmal an der Spitze, einmal im vorletzten Waggon. Vorne ruft er: »Jemand Eis?«, am Ende des Zuges: »Niemand Eis?«
Die neunjährige Tochter sitzt am Bett des Vaters und stickt.
»Was soll das werden?«, fragt der Vater.
»Mein Sterbehemd«, sagt die Tochter. Er übergeht es.
»Und wenn es fertig ist, was fängst du dann an?«
»Dein Sterbehemd.«
Er lässt es geschehen, hebt aber plötzlich den Kopf und will wissen:
»Wo ist der Mond? Warum kann ich von hier aus den Mond nicht sehen?«
»Aber Papa, du suchst ihn auf der falschen Seite des Himmels.«
Eine Freundin verliert ihre Mutter allmählich. Diese liegt im Bett in der immergleichen Rückenlage, bewegt die Hände nicht und hat sich innerlich schon in die Agonie gewendet. Die Freundin flüstert nachts am Telefon wie ein Geständnis:
»Ich entwickele eine seltsame Vorliebe dafür, berührt zu werden. Ich gehe durch die Menge und rempele Leute an, nur um sie zu fühlen. Könntest du mich, wenn wir uns wiedersehen, vielleicht einmal berühren?«
Zwei Wochen später sinkt sie am Grab der Mutter von Arm zu Arm. In ihrem Gesicht ist neben der Verzweiflung auch verzweifeltes Behagen.
Ich trete in den feuchten Atem der Kirche. Da liegt der Freund, nach örtlichem Brauch im offenen Sarg aufgebahrt, gleich beim Altar. Unvorbereitet wie ich bin, ihn so zu sehen, bleibe ich im Mittelgang stehen. Sein Schnäuzer fehlt, sein letztes Lachen ist nackt. Er liebte eine kleine leichtlebige Syrerin wie ein Schuljunge, unbeholfen und hoffnungslos. Sie spaßte. Er formulierte Lebensregeln. Da wurde er ihr lästig, und sie wünschte keinen Kontakt mehr. Er verlor seine Arbeit, dann seine Abfindung, entwarf die Speisekarte und den Internet-Auftritt des griechischen Lokals um die Ecke. Man bezahlte ihn in Ouzo. Er wurde Trinker, stürzte die Treppe herab, lag zwei Tage da, ohne dass ihn jemand vermisste. Seine Mutter steht am Grab, klein, grau und hustend. Als ich sie in ihrer Wohnung besuche, hat die Gardisettegardine eine gelbliche Farbe von all dem Husten. Sie hört auch jetzt nicht auf, den Sohn zu ermahnen. Das hält sie am Leben, ein so anderes Leben als jenes, das mich auf der Straße glücklich wieder in Empfang nimmt, weil ich dreifach entkommen bin: seinem Tod, meiner Pietät, ihrem Überleben.
Saras Großmutter hat inzwischen ihr Leben vergessen, und selbst die alten Fotos schaut sie an wie blinde Fenster. Doch an die »Iphigenie« kann sie sich noch Wort für Wort erinnern und schreckt manchmal hoch aus den Kissen und sagt Dinge wie: »Zeuch fort, eitles Blendwerk!« Als sie stirbt, fährt sie, als alle schon denken, sie sei gegangen, aus den Kissen auf mit der letzten Frage ihres Lebens: »Wo hängt die Mona Lisa?«
Am Ende der Dorfstraße, kurz bevor sie sich in eine Senke schlängelt und dann wieder zum Wald aufsteigt, liegen »Sarglager« und »Trauerhilfe« einer alteingesessenen Familie, die hier laut Urkunde seit Jahrzehnten ein »Bestattungsunternehmen im Fachverband des Deutschen Bestattungsgewerbes e.V.« betreibt. Die Urkunde ist Teil der Schaufensterauslage und komplettiert ein Arrangement aus einem Korn-Ähren-Gebinde, einer sterbensmüde erbleichten Hortensie, einer Kerze mit schweren Stearin-Tränen auf der Flanke, einer Bibel mit Goldschnitt, daneben ein Evangelienbuch, aufgeschlagen beim Kapitel »Von dem Tode und dem Sterben« mit dem Anfang: »Herzlich lieb hab ich dich mein Heiland«, benachbart zwei holzgerahmte Sinnsprüche und der Schriftzug »Pietät«.
Der Freund, den ich begleite, hat seine Mutter verloren. Es war ihr Wunsch, dass der Trauerfall in die Hände des nachbarlichen Bestatters gelegt würde. Der tritt im schwarzen Anzug an die Theke und klappt den in Flanell gebundenen Aktenordner auf mit den Worten:
»Gut, dann lassen Sie mich Ihnen mal den Sterbefall verhackstücken.«
»Und jetzt«,
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