Momentum
hatte die alte Freundin einer Freundin der Familie gesagt, »möchte ich gerne mal meinen Kopf auf deine Schulter legen.«
»Sicher«, hatte die Freundin geantwortet, »aber warum willst du das tun?«
»Weil meine Mutter es bei ihrer Freundin auch so gemacht hat, als sie starb«, sagt die Alte, legt den Kopf ab und tut wirklich ihren letzten Atemzug.
Als ich im letzten Telefonat mit einer sterbenden Freundin sage: »Ich küsse dich«, erwidert sie: »Ja, ich küsse dich auch. Und mich küsse ich auch.«
Was ist schlimmer: Wie sie stirbt oder wie das Leben weitergeht?
Ich frage die Mutter: »Was macht sie?«
»Ach, jetzt konzentriert sie sich eigentlich hauptsächlich aufs Atmen. Ich habe sie gefragt: Hast du Angst vor dem Sterben? Nein, hat sie erwidert, das halte ich aus.«
Welches von allen setzt sich durch als das letzte Bild vor unserem Tod? Warum nicht dieser winzige Flughafen auf Eua, im Königreich Tonga, wo die Flugzeuge sicherheitshalber auf dem Gras neben der holprigen Landebahn ausrollen, wo Hibiskus und Geranien, Palmen und Kavasträucher ihre Blüten und Zweige dem Achtsitzer entgegenstrecken. Das »Terminal« ist nur ein Kasten, eine Kabine bloß in Blau und mit der handgemalten Aufschrift »Check in«. Ihr Giebel ist hölzern und rot angemalt, und auf zwei Bänken schlafen schwergewichtige Angestellte. Dem Abfertigungsbeamten fehlen fast alle Zähne, und ein Junge läuft in Selbstgesprächen immer rund um die Sträucher. Der Pilot lässt sich vor Antritt des Fluges bar bezahlen. Ich habe Vanille im Gepäck und warte in ihrem Hauch.
Da sitzt diese alte Frau und erzählt mir ernst, wie sie neulich abends an ihrem Fenster saß, und da stand der Tod unter den Bäumen und schaute sie an. Ohne Regung schaute er sie an, und sie blickte lange geduldig zurück. Sie wusste gleich, dass es ihr Tod war, hielt aber seinen Blick aus, bis er ganz langsam über die menschenleere Straße davonschlenderte.
»Er wird wiederkommen«, sagt sie. »Aber jetzt kenne ich schon mal seine Augen.«
Ich sitze wieder am Bett der Freundin, die sterben wird. Erst seit ein paar Wochen haben ihre Augen den Ausdruck der Sterbenden. Er ist wie Hunger. Aus ihrem Bett geht der Blick in Baumwipfel, dahinter Hügel. Ich sage ihr, dass sie Glück hat, in das Wiegen der Wipfel zu sehen. Sie fühlt keine Wipfel und kein Glück. Ich habe Musik mitgebracht. Sie wird sie nicht hören. Und Kunstbücher. Sie wird sie nicht aufschlagen. Sie ist zu müde von der Krankheit, zu schamhaft, von ihrem Glauben zu sprechen.
Ich soll erzählen, das Leben einlassen, und ich erzähle, raffe die Tagesreste zusammen, gehe durch die gemeinsame Vergangenheit, verlaufe mich bis in die Zeitung. An der Banalität der Geschichten soll sie merken, dass ich nicht für den letzten Abschied rede. Sie schließt die Augen. Ich werde leiser, schweige. Ihre Augen öffnen sich sofort. Ich setze abermals an, spreche lange und monoton. Längst sind ihre Augen wieder geschlossen. Doch ich spreche. Erst als ich sicher bin, dass sie schläft, lasse ich die Sätze hängen, betrachte ihr Gesicht. Sie lässt es geschehen, öffnet die Augen nicht, aber ihre Lippen flüstern unmissverständlich: »Weiter!«
Danksagung
Dass das Phänomen mit dem Namen »Momentum« auch in der Werbung bekannt ist, verrät sich nicht zuletzt in dem Werk mit dem identischen Titel von Holger Jung und Jean-Remy von Matt. Ich danke den beiden Autoren für die Erlaubnis, mein Buch unter dem Namen zu veröffentlichen, unter dem ich es immer gedacht hatte.
Ich danke den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des S. Fischer Verlags, die die Entstehung auch dieses Buches auf so vielfältig unterstützende Weise begleitet haben und mir seit Jahren ein verlegerisches Zuhause geben.
Ich danke Julia Wittgens für ihre langjährige Begleitung meiner Arbeit.
Besonders danke ich allen, die in diesem Buch vorkommen.
Roger Willemsen
Über Roger Willemsen
Roger Willemsen veröffentlichte sein erstes Buch 1984 und arbeitete danach als Dozent, Herausgeber, Übersetzer, Essayist und Korrespondent aus London, ab 1991 auch als Moderator, Regisseur und Produzent fürs Fernsehen. Er erhielt u. a. den Bayerischen Fernsehpreis und den Adolf-Grimme-Preis in Gold. Heute steht er mit Soloprogrammen oder gemeinsam mit Dieter Hildebrandt auf der Bühne. Sein Roman ›Kleine Lichter‹ wurde mit Franka Potente in der Hauptrolle verfilmt, sein Film über den Jazzpianisten Michel Petrucciani in vielen
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