Momentum
wirkt wahrhaftig, weil der Mann so phantasielos ist. Manchmal steht er zwischen uns Kindern und schmarotzt ein paar Anekdoten, Halbsätze, Pointen aus dem robusten Kinderleben. Sonst hat er bloß seine Heiligengeschichten.
Ganz anders der »Herr Vikar«, der in der Volksschule im schwarzen Talar zum Unterricht erscheint und einen rußigen, mystischen Namen trägt: Herr Goral. Er trägt seinen Talar wie ein Heiratsschwindler, und etwas an ihm, das spüren wir selbst als Kinder, wirkt verlebt, wie ein Bonvivant mit den Jahren verlebt wirkt. Wir haben keine Ahnung, was ein Vikar ist. Vermutlich eine Art Fachmann in Gottesfragen, näher dran am Schöpfer als ein Religionslehrer und in der kirchlichen Feldarbeit erprobt. Mit Herrn Goral tritt die Legende ins Leben, hat er doch wirklich als Missionar in Afrika gearbeitet. Davon erzählt er Geschichten, in denen die Neger nackt sind, singen und tanzen und große schwarze Töpfe mit riesigen Brocken Fleisch auf dem offenen Feuer erhitzen.
»Unglaublich!«, rufen wir Kinder.
»Das könnt ihr mir glauben!«, widerspricht Herr Goral. »Das müsst ihr mir glauben!«
Angesichts der vielfältigen Verwendung des Wortes »glauben« werden wir ein bisschen unsicher mit dem Wort.
Zu Hause lässt sich mein Vater alle Geschichten des Herrn Goral nacherzählen. Darüber lacht er, dass ihm die Adern an den Schläfen hervortreten. Anschließend werden wir ermahnt, keine der Geschichten dieses Vikars mehr für bare Münze zu nehmen, denn sie seien »samt und sonders erstunken und erlogen«.
Mit diesem Tag hat Herr Goral unwillentlich eine Mission erfüllt, er hat eine komplizenschaftliche Allianz zwischen Vater und Kindern geschlossen, wird uns doch zum ersten Mal erlaubt, die eigene Vernunft über die eines Erwachsenen zu stellen. Im Genuss dieses einzigartigen neuen Verhältnisses bringen wir immer weitere Geschichten von Herrn Goral heim, schmücken sie vor dem Vater immer weiter aus und fühlen uns bei der Darstellung seiner Lügengeschichten bald selbst nicht mehr der Wahrheit verpflichtet. Die Erzählungen seiner Lügengeschichten sind nun ebenfalls gelogen, und am Ende bekommt niemand so viele Lügen aufgetischt wie mein Vater.
Während sich die Lüge so als eine fruchtbare Muse erweist, reibt sich das Blattgold des »Glaubens« ab. Herrn Goral nicht zu glauben, aber an einen Gott zu glauben, der sein Dienstherr ist – diesen Widerspruch können wir unmöglich auflösen, deshalb triumphiert schließlich die lachende Rationalität in der Gestalt meines Vaters, der zur Figur der Aufklärung wird, wenn auch im Zustand der Verblendung.
Martha spürt auf dem Weg in die Kirche einen Stein im Schuh, bleibt aber nicht stehen, um ihn herauszunehmen, »weil doch unser Herr Jesus auch so furchtbar hat leiden müssen«. Nach der Messe ist der Schuh voll Blut, die Wunde reicht bis zum Knochen. Martha muss operiert werden. Im Krankenhausbett besteht sie darauf, dass ihre Augen auf ein Kruzifix blicken können. Ich klingle beim Herrn Pastor. Die hübsche Haushälterin, Fräulein Walburga, öffnet. (Sie wird Jahre später schwanger werden, den Vater des Kindes nicht nennen, die Bewohner des Dorfes werden darauf den Pastor und Fräulein Walburga aus der Gemeinde treiben, die beiden werden getrennt gehen, in verschiedene Richtungen, niemand wird glücklich dabei.) An diesem Nachmittag erhalte ich von Fräulein Walburga und Herrn Pastor einen hölzernen Christus, den ich auf zwei flachen Händen an Marthas Bett trage wie in einer Prozession. Die Füße Jesu inspizierend, stellt sie aber fest, dass sie vom Holzschnitzer unversehrt dargestellt wurden, und weist so den Herrn zurück.
Als Kind habe ich geglaubt, Fremdsprachen seien nichts anderes als die Vokalmusik der Erwachsenen, keine landläufigen Sprachen also, sondern eine Art Zeitvertreib für Leute, denen das Hervorbringen von Geräuschen zur Unterhaltung reicht. So hörte ich zu, wie sie zweistimmig, dreistimmig intonierten, manchmal auch lange solistisch, und Worte hervorbrachten, wie sie Irre erfinden: Derapti felisam, morbozzo, ferfaderissen.
Einmal überlasse ich mich ganz dem gutturalen Wechselgesang von zwei Afrikanern und einer Afrikanerin in einer Bonner Milchbar. Hin und her schwappt der Redefluss, als ein Mann an den Tisch tritt und den dreien kommentarlos einen freien Stuhl wegnimmt, diesem
Gesocks
. Die Afrikanerin empört sich in der auf und ab schaukelnden Melodie ihrer Sprache. Der Mann mit dem Stuhl zieht
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