Monde der Finsternis 03 - Mond der Ewigkeit
stolperte über eine Baumwurzel. Sie konnte sich gerade noch abfangen. Etwas surrte durch die Luft wie eine Frisbee- Scheibe. Sie spürte den Luftzug dicht an ihrem Ohr. Mary tippte auf einen Vogel, den sie aufgeschreckt hatte und setzte den Weg fort. Sie war nur wenige Schritte gegangen, als plötzlich etwas ihren Knöchel umschlang und sie zu Fall brachte. Es fühlte sich wie die Ranke einer Pflanze an, die in rasantem Tempo ihre Wade emporkletterte. Mary ruderte mit den Armen, bevor sie mit dem Oberkörper auf den wurzelbehafteten Boden schlug. Der Schmerz in ihrem Brustkorb erstickte jeden Schrei. Noch ehe sie einen Gedanken fassen konnte, wurde sie bäuchlings von der Ranke rückwärts gezogen. Das konnte doch keine Pflanze sein! Sie strampelte vergeblich. Je heftiger sie sich wehrte, desto fester umschlang die Ranke ihr Bein. Mary tastete danach, um sie abzuziehen, aber als sie sie berührte, brannte ihre Hand wie Feuer. Die Pflanze sonderte einen klebrigen Saft ab, der durch die Haut drang. Ob er giftig war? In Panik krallte sie die Finger tief ins morastige Erdreich, das mit jedem Zentimeter glitschiger wurde und sie keinen Halt finden ließ. Sie musste den falschen Weg eingeschlagen haben und ins Moor geraten sein. Sie rief um Hilfe, aber alles, was ihr antwortete, war die Stille. Die Ranke wickelte sich bereits um ihre Taille und eroberte ihr zweites Bein. Mary schrie und weinte. Irgendjemand musste sie doch hören. Als Dornen sich ins Fleisch bohrten, versagte ihre Stimme und ihre Glieder waren auf einen Schlag gelähmt. Gift. Wenn sie niemand hier fand, würde sie sterben. Unaufhörlich rannen Tränen über ihr Gesicht. Wie eine Fliege im Spinnennetz gefangen, wartete sie auf ihr Ende. Der Pflanzentrieb durchstieß ihren Körper, kroch in ihrem Inneren empor und wickelte sich um ihre Organe. Immer tiefer versank ihr Leib im moorigen Untergrund. Ihre Gegenwehr erlahmte, der Tod war ihr gewiss. Alles war vorbei. Endgültig und unabänderlich. Immer tiefer zog die Ranke sie in die schwarze Feuchte, bis ihre Brüste bedeckt waren. Ihre Arme glitten schlaff über den Boden. Nur ihr verdammter Verstand funktionierte noch. All ihre Stoßgebete wurden nicht erhört. Sie spürte, wie die Ranke ihren Nacken durchbohrte und den Hals umschlang. Sie rang nach Atem. Immer dichter umschloss das Pflanzengeflecht sie, nicht bereit, sie herzugeben. Als sie keine Luft mehr bekam, versank ihr Geist endlich in erlösender Dunkelheit.
2
A mber löschte die E-Mail zum x-ten Mal. Herrgott, es konnte doch nicht so schwer sein, an ihre Freundin Carole zu schreiben.
Kaum hatte sie ein Wort getippt, schweiften ihre Gedanken wieder zu dem Zeitungsaufruf im Gealacher Tageblatt. Seit zwei Wochen wurde Mary Jane Ryan vermisst, eine junge Schauspielerin, die Amber flüchtig von den Proben in Edinburgh kannte. Eine sympathische Frau mit unzähligen Sommersprossen im Gesicht und immer guter Laune. Die Suche verlief bislang ergebnislos. Ihre Eltern hatten einen Aufruf gestartet, um Zeugen zu finden. Ein seltsames Gefühl beschlich Amber. Sie glaubte nicht, dass Mary noch am Leben war, im Gegensatz zu anderen, die ihr unterstellten, wegen ihrer finanziellen Sorgen ins Ausland gegangen zu sein. Amber hatte nur wenige Male mit ihr gesprochen, aber sie schätzte Mary anders ein. Ihr Verschwinden berührte Amber mehr als angenommen und raubte ihr die Konzentration. Dabei war der Brief an Carole längst überfällig.
Sie stöhnte und stützte den Kopf in die Hände. Wie sollte sie beginnen? Vielleicht so: Liebe Carole, ich würde mich sehr über deinen Besuch freuen, aber ich muss dich vor meinem Freund warnen, er ist ein Vampir. Aber keine Sorge, er ist nicht bissig. Amber schmunzelte, sie konnte sich Caroles entsetztes Gesicht vorstellen. Sie hätte sicher genauso reagiert vor ihrer Zeit in Gealach.
Sie sah durchs Fenster hinaus in die Dämmerung. Die Standuhr im Flur schlug sechs Uhr. Das gleiche Datum, die gleiche Uhrzeit wie damals, als sie das erste Mal vor diesem Schloss gestanden hatte. Nur zu genau erinnerte sie sich an die finstere Aura, die die Mauern umgab und die sie das Fürchten gelehrt hatte. Carole war sensibel genug, das ebenfalls zu spüren. Sie würde gleich bemerken, dass mit Aidan etwas nicht stimmte. Nein, es war besser, nach London zu fahren und der Freundin einen Besuch abzustatten, anstelle einer Einladung nach Gealach. Außerdem reizte sie der Gedanke, Gealach zu entfliehen. Und Aidan, der von Tag zu Tag
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