Monde
Begierde fühl ich, mich in den unendlichen Luftraum zu stürzen«, sagte Maggie, »über den schauerlichen Abgründen zu schweben.«
Baedecker und Gavin drehten sich um und starrten sie an.
»Goethe«, sagte sie, als müsste sie sich verteidigen.
Gavin nickte, rückte den Rucksack zurecht und marschierte weiter den Pfad entlang. Baedecker grinste sie an. »Und du kannst dir den ersten Vers der Thanatopsis nicht merken, hm?«, sagte er.
Maggie zuckte die Achseln und grinste zurück. Gemeinsam schritten sie den Weg hinauf, dem lockenden Streifen Sonnenlicht entgegen.
Sie fanden die zerfetzten Überreste eines kleinen Zelts nahe der Dreitausendneunhundert-Meter-Marke. Hundert Meter weiter stießen sie auf Maria. Sie lehnte an einem Felsen, hatte die gefalteten Hände zwischen die Knie gepresst und zitterte heftig, obwohl das direkte Sonnenlicht sie inzwischen alle mit einem goldenen Schein überzog.
Sie hörte auch dann nicht auf zu zittern, als Maggie sie in einen Steppmantel gehüllt und mehrere Minuten in die Arme genommen hatte.
»St-St-Sturm h-h-hat das Z-Z-Zelt in Stücke gerissen«, brachte sie zwischen krampfartig klappernden Zähnen heraus. »Alles ist n-n-nass ge-geworden.«
»Schon gut«, sagte Maggie.
»M-muss d-den B-B-Berg rauf.«
»Heute nicht, junge Dame«, sagte Gavin. Er rieb dem Mädchen die Hände. Baedecker bemerkte, dass die Lippen des Mädchens grau waren, ihre Finger an den Spitzen weiß. »Unterkühlung«, sagte Gavin. »Sie gehen so schnell wie möglich wieder bergab.«
»Sagen Sie L-L-Lude, es tut mir 1-1-leid«, flüsterte sie und fing an zu weinen. Ihr Schluchzen wurde von Anfällen von Schüttelfrost begleitet.
»Ich begleite dich nach unten«, sagte Maggie. »Unten haben wir heißen Kaffee und Suppe.« Die beiden Frauen standen auf, die kleinere schlotterte immer noch unbeherrscht.
»Ich komme mit runter«, sagte Baedecker.
»Nein!« Maggies Stimme klang fest. Baedecker sah sie überrascht an. »Ich glaube, du solltest weitergehen.« Ihre Augen sandten Baedecker eine Botschaft, aber er war nicht sicher, was für eine.
»Sicher?«, fragte er.
»Sicher«, sagte sie. »Du musst, Richard.«
Baedecker nickte und wandte sich ab, um Gavin zu folgen, als Maria rief: »Halt!« Immer noch zitternd kramte sie in ihrem Rucksack und holte ein rechteckiges Plastikkästchen heraus. Sie gab es Baedecker. »Lude hat ver-vergessen, dass ich es habe. Er b-braucht es.«
»Nein«, sagte Gavin. »Das bringen wir ihm nicht.«
Maria schaute ihn verständnislos an. »Aber d-d-das müssen Sie«, sagte sie. »Er b-braucht es. Er hat es gestern vergessen.«
»Nein«, sagte Gavin.
»Wir bringen es ihm«, versicherte Baedecker und verstaute die Box in der Tasche seiner Fliegerjacke. Er zuckte mit keiner Wimper, als Gavin zu ihm herumfuhr. »Es ist Insulin«, sagte Baedecker. Er drückte Maggie noch einmal die Hand und stieg vor Gavin den schmalen Pfad hinauf.
Lude hatte es bis vierhundertfünfzig Meter vor den Gipfel geschafft, dann war er zusammengebrochen. Sie fanden ihn unter dem schweren Rucksack, die langen, in Segeltuch gewickelten Stangen trug er noch auf der Schulter. Seine braunen Augen standen offen, aber das Gesicht war aschfahl, und er atmete kurz und abgehackt.
Baedecker und Gavin halfen ihm unter dem Hanggleiter hervor, dann setzten sich die drei auf einen großen Stein neben einem Abgrund, der sechshundert Meter tief zur Hochwiese hinunterreichte. Der Schatten des Uncompahgre erstreckte sich inzwischen über mehr als zwei Kilometer und berührte die steile Flanke des Matterhorns. Überall hohe Gipfel und schneebedeckte Plateaus, soweit das Auge reichte. Baedecker spähte den Hang hinab und konnte Maggies rotes Hemd erkennen. Die beiden Frauen schritten langsam, aber jede für sich, den Südgrat hinab.
»Danke, Mann«, sagte Lude, und gab Gavin die Feldflasche zurück. »Das hab ich gebraucht. Gestern Nacht vor dem Sturm ist uns das Wasser ausgegangen.«
Baedecker reichte ihm das Kästchen mit der Spritze.
Der kleine Mann schüttelte den Kopf und strich sich mit einer zitternden Hand durch den Bart. »O Mann, danke«, sagte er leise. »So dämlich. Hab vergessen, dass Maria das bei sich hatte. Und das bei dem ganzen Mist, den ich gestern gegessen habe.«
Baedecker wandte sich ab, während Lude sich die Spritze setzte. Gavin schaute auf die Uhr und sagte: »Acht Uhr dreiundvierzig. Könnte ich nicht alleine weiter? Du kannst unserem Freund runterhelfen, Dick, und ich
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