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Monde

Titel: Monde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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die gefaltete Flagge. Sie nimmt sie ohne Tränen entgegen.
    Kleine Gruppen und einzelne Leute sprechen leise zu der Witwe, dann verweilen die Leute einen Moment, bevor sie langsam zu den wartenden Wagen außerhalb des Zauns wandern.
    Baedecker bleibt noch ein paar Minuten. Kalte Luft brennt ihm in den Lungen. Jenseits des Tales sind braune Hügel mit Flecken grauen Schnees zu erkennen. Die Landstraße verläuft wie eine Narbe über das Antlitz der Klippe. Weiter westlich ragt ein Steinkamm aus den Hügeln mit ihren Pinienwäldern empor, und Baedecker muss an die Panzerplatten eines Stegosaurus denken. Er lässt den Blick zu dem kleinen Schuppen am entgegengesetzten Ende des Friedhofs schweifen und bemerkt den gelben Bagger, der dort halb verborgen steht. Zwei Männer in dicken grauen Overalls und blauen Schirmmützen rauchen und beobachten ihn. Sie warten drauf , dass ich gehe, denkt Baedecker. Er betrachtet die Oberfläche des grauen Sargs über dem Loch, das in den gefrorenen Boden gegraben wurde, dann schließlich wendet er sich ab und wandert zu den Autos.
    Diane wartet an der offenen Tür ihres weißen Jeep Cherokee, sie winkt Baedecker zu sich, nachdem die letzten Trauernden in ihre eigenen Autos gestiegen sind. »Richard, würdest du mich nach unten begleiten?«
    »Selbstverständlich«, sagt Baedecker. »Soll ich fahren?«
    »Nein danke.« Ihr Auto ist das letzte, das sich entfernt. Baedecker mustert Diane, als sie die schmale Schotterstraße hinunterrollen; sie schaut nicht zum Friedhof zurück. Ihre weißen bloßen Hände umklammern das Lenkrad mit festem Griff. Es schneit heftiger, als sie die Serpentinen hinter sich lassen, und sie schaltet die Scheibenwischer ein. Das Metronomticken der Wischblätter und das Schnurren der Heizung sind ein paar Minuten lang die einzigen Geräusche.
    »Richard, meinst du, wir haben es gut hingekriegt?« Diane knöpft den Mantel auf und dreht die Heizung kleiner. Ihr Kleid ist tief dunkelblau; sie hat in den drei Tagen vor der Beerdigung einfach kein schwarzes Umstandskleid finden können.
    »Ja«, sagt Baedecker.
    Diane nickt. »Ich auch.«
    Sie holpern über eine Viehsperre. Bremslichter leuchten auf, als das Auto vor ihnen bremst, um einem großen Stein auszuweichen, der aus dem ausgefahrenen Weg ragt. Sie durchqueren die Wiese eines Farmers und biegen nach rechts auf eine Schotterstraße ab, die zum Tal führt.
    »Wirst du heute Abend bei uns in Salem bleiben?«, fragt Diane. »Wir werden hier im Haus was Warmes essen und fahren dann zurück.«
    »Natürlich«, sagt Baedecker. »Ich habe mit Bob Munsen vereinbart, dass ich mich heute Nachmittag mit ihm an der Absturzstelle treffe, aber ich kann bis sieben zurück sein.«
    »Tucker wird heute Abend hier sein«, sagt sie rasch, als müsste sie ihn überzeugen. »Und Katie. Es wäre schön, wenn wir vier ein letztes Mal zusammen sein könnten.«
    »Es muss nicht das letzte Mal sein, Di«, sagt Baedecker.
    Sie nickt, sagt aber nichts. Baedecker betrachtet ihr Gesicht, die Sommersprossen auf der blassen Haut und muss an eine Porzellanpuppe aus Deutschland denken, die seine Mutter auf ihrer Kommode sitzen hatte. Er hatte sie eines Tages zerbrochen, als er mit Boots, ihrem zu groß geratenen Spaniel durch das Haus tobte. Sein Vater hatte sie zwar sorgfältig wieder zusammengeleimt, aber von dem Zeitpunkt an waren Baedecker stets die winzigen, haarfeinen Risse auf den weißen Wangen und der Stirn der zerbrechlichen Figur aufgefallen. Nun studiert Baedecker Dianes Stirn, als suchte er dort nach neuen Rissen.
    Draußen schneit es heftiger.
    Baedecker traf Anfang Oktober in Salem ein. Er sprang vom Zug, stellte das Gepäck ab und schaute sich um. Der kleine Bahnhof lag fünfzig Meter entfernt. Er war kaum größer als ein kleiner Picknickpavillion und sah aus, als wäre er in den zwanziger Jahren erbaut und schon bald wieder aufgegeben worden. Moosklumpen wuchsen auf den Dachziegeln.
    »Richard!«
    Baedecker spähte an einer Familie vorbei, die sich umarmte, und konnte die hochgewachsene Gestalt von Dave Muldorff beim Bahnhofsgebäude erkennen. Baedecker winkte, hob seine alte Fliegertasche vom Militär auf und schlenderte auf Dave zu.
    »Verdammt, es ist schön, dich zu sehen«, sagte Dave. Seine Hand war groß, der Handschlag fest.
    »Es ist schön, dich zu sehen«, erwiderte Baedecker und stellte von einer plötzlichen Gefühlsaufwallung begleitet fest, dass er sich wirklich freute, seinen alten Mannschaftskameraden zu treffen.

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