Mondherz
Geheimnisse vorenthalten.
Gábor sah auf den Dolch in seiner Hand hinab. Er würde den Kampf schnell beenden können. Doch Michael war unbewaffnet … und er war einmal sein Bruder gewesen. Stolz hob er den Kopf. »Keine faulen Tricks«, rief er. »Und wir bleiben in Menschengestalt.«
Als Antwort nickte Michael nur grimmig. Der Blutverlust ließ ihn bleich aussehen. Doch immer noch war er so massig wie ein Stier, und als er die Fäuste hob, erahnte Gábor das Muskelspiel unter seinem Hemd. Er ließ den Dolch fallen. Die Waffe rutschte übers Dach und verschwand an der Kante. Drei Stockwerke tiefer schepperte es.
Gábor hob die Fäuste und schritt langsam auf Michael zu. Wie ein Bulle senkte Michael den Kopf und sprang nach vorne. Das Dach bebte unter seinen Schritten. Gábor wich seinem ersten Faustschlag mühelos aus. Sie kämpften keuchend und verbissen. Dann traf Gábor Michael in die verwundete Seite. Michael stöhnte auf. Er stolperte, gefährlich nah am Abgrund. Gábor versetzte ihm den nächsten Schlag, direkt auf die Brust. Michael schwankte. Im letzten Moment schnellte seine Hand vor und ergriff Gábors Arm. Sein Gewicht ließ Gábor ebenfalls taumeln. Ihre Gesichter waren sich plötzlich ganz nah. In Michaels Augen blitzte ein kalter Funke auf.
Mit der freien Hand griff Michael hinter sich, an seinen Gürtel.
Es war reiner Instinkt. Gábor warf sich zurück. Eine dünne Klinge zischte so nah an seiner Kehle vorbei, dass er den Luftzug spürte. Schmerzhaft prallte er mit dem Rücken auf den Dachschindeln auf.
»Ehrlichkeit wird überschätzt.« Michael verzog den Mund zu einem hämischen Grinsen. Er hatte Gábors Arm losgelassen, um das Gleichgewicht zu wahren. Jetzt hob er erneut das schmale Messer, das er in seinem Gürtel versteckt getragen hatte. Gábor lag immer noch auf dem Rücken. Seine Füße suchten nach einem festen Halt, damit er auf der Schräge des Dachs nicht abrutschte. Abwehrend hob er die Hände. Er sah, wie sich die Muskeln in Michaels Arm anspannten … und Gábor hatte nichts, um die Klinge abzuwehren. Michaels Arm raste auf ihn zu, und er riss die Augen auf, in Erwartung des tödlichen Schmerzes.
Da hörte er ein leises Sirren.
Nur aus dem Augenwinkel nahm er die Bewegung wahr, einen pflaumengroßen Schatten. Er prallte mit einem dumpfen Klang gegen Michaels Schläfe. Der riesenhafte Werwolf blinzelte und hob die Hand, als wolle er eine Mücke abwehren. Gábor schob sich mit Händen und Füßen rückwärts das Dach hinauf, fort aus der Reichweite des Messers. Doch Michael schien ihn gar nicht mehr wahrzunehmen. Er schüttelte den Kopf. Sein Grinsen wich einem verdutzten Gesichtsausdruck. Langsam und steif, wie ein Baum, dem eine Axt den tödlichen Hieb versetzt hatte, kippte er nach hinten. Sein massiger Körper schlug mit einem Krachen auf den Schindeln auf, rutschte die Schräge hinunter und kippte geräuschlos über die Kante.
Beim Klang des Aufpralls schloss Gábor unwillkürlich die Augen. Er keuchte, das Blut pulste immer noch wild und dunkel durch seine Adern. Langsam setzte er sich auf und spähte auf den Platz hinunter. Auf dem Pflaster kauerte Paulo. Er hielt eine Steinschleuder in der Hand.
Für einen Herzschlag schienen sich ihre Blicke zu kreuzen, auch wenn Gábor für Paulo nicht mehr als ein dunkler Umriss sein konnte. Dann wandte der Roma sich ab.
Veronika.
Mit einem Satz war Gábor an der Luke und schob sich hindurch. Im gleichen Moment stieg ein Mann durch die andere Luke ins Turmzimmer. Er musste einer von Drăculeas Werwölfen sein. Als er Gábor sah, kniff er die Augen zusammen und zog sein Schwert.
Gábor packte den Schemel und stürzte nach vorne. Doch ehe er bei ihm anlangte, sackte der Mann mit einem Schmerzensschrei zusammen. Er kippte nach vorne. Seine Stirn schlug hart auf dem Boden auf, als Arpad hinter ihm auftauchte, ein blutiges Schwert in der Hand.
»Das war der letzte von den vieren.« Die Worte waren kaum mehr als ein dunkles Grollen. Schweiß und rote Fellbüschel bedeckten gleichermaßen seine Stirn, und aus seinen Augen sprach wütend der Wolf.
Gábor ließ den Schemel sinken. »Danke«, murmelte er, und war in Gedanken schon bei der Wölfin hinter der Eisentür. Ihr Jaulen war verstummt.
»Hilf mir!« Er nahm das Schwert des Toten und stemmte die Schneide in das metallene Schloss. Mit einem Satz war Arpad neben ihm, und gemeinsam hebelten sie das Schloss heraus.
Gábor riss die Tür auf, und die Wölfin fiel ihm entgegen. Ihr
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