Mondmilchgubel Kriminalroman
Leute durch die Gassen der Altstadt drängen und sich draußen vor den Cafés und Bars hinpflanzen, um den Feierabend ausklingen zu lassen. Was für ein köstliches Gefühl der unbegrenzten Freiheit, ziellos durch die Straßen zu schlendern, in ihren Stammlokalen die Tageszeitungen zu zerpflücken oder eine Kunstausstellung zu besuchen. Manchmal ergeben sich so spontane Begegnungen mit alten Bekannten. Diese zufälligen Treffen sind ihr weit lieber als fixe Abmachungen. Ein Bier da, ein Glas Wein dort. Ein kurzes, manchmal intensives Gespräch ohne Versprechen auf Wiederholung.
Ein zartes scaloppine di vitello al limone mit einem Hauch spinaci soffritti con olio e aglio wird das Essen abrunden. Und schließlich zur Verdauung einen Grappa. Zum Teufel mit meinem Übergewicht, denkt sie. Heute wird ausgiebig getafelt und dazu ein guter Tropfen getrunken. Ihr Weinhändler in Zürich hat ihr einen ›samtenen‹ Sizilianer aufgeschwatzt. Gelassen nimmt sie zur Kenntnis, dass sie den Draht zu Zürich verloren hat. Die träge Stadtpolitik, die früher ihr Gemüt zum Kochen brachte, interessiert sie kaum noch. Wie oft hatte sie sich darüber geärgert, dass man in Zürich statt groß und weit nur klein und eng denkt. Sogar der Bau eines neuen Kongresshauses wurde von der Bevölkerung abgelehnt. Und obwohl Zürich eine reiche Stadt in fantastischer Lage ist, fehlen mutige, risikofreudige Menschen. In Zürich geht man nach wie vor auf Nummer sicher.
Einige alte Bekannte haben wie immer telefonisch zum Geburtstag gratuliert. Kurz vor Mittag rief auch Kuno, Iris’ Mann, an, um sich nach seiner Frau zu erkundigen, die über Mittag nicht wie abgemacht nach Hause gekommen war. Kuno ist im Nachbardorf Mitinhaber einer kleinen Treuhandfirma. Von Iris weiß sie, dass er zum Lunch immer nach Hause fährt, wenn er keine Kunden zum Essen ausführen muss.
Ihre Gedanken schweifen zu ihrem betagten Vater. Es ist typisch für ihn, ihren Geburtstag zu vergessen. Ihre Mutter hat ihn nie vergessen. Ihr Tod hat ihn über Nacht zu einem Greis gemacht. Beim Aufstehen und bei der Körperpflege braucht er jetzt Hilfe. Kürzlich hat Viktoria ihm angeboten, nach Wald ins Pflegeheim umzuziehen. Einen alten Baum soll man nicht verpflanzen, war seine Antwort, und damit war die Sache vom Tisch. Es macht ihr Sorgen, dass er sich kaum noch am Leben beteiligt. Während er früher viel las, sitzt er jetzt öfters nur noch in seinem alten Ohrsessel und starrt vor sich hin. Er habe genug gesehen, genug gehört und genug geredet, sagt er, wenn sie ihn darauf anspricht. Abgesehen davon, ziehe er seine eigene Anwesenheit jener anderer Menschen vor. Einzig seine Liebe für die Natur ist noch nicht erloschen. Unerschütterlich beobachtet er im Park die Enten und die Schwäne. Es macht sie betroffen, dass das Leben aus ihm herausrinnt, und es nichts gibt, was sie dagegen tun kann.
Ein ohrenbetäubender Donnerschlag lässt sie aufhorchen. Sie eilt ans Fenster. Der Tag wird zur Nacht. Sie schaut gebannt zu, wie der Regen einsetzt und schräg durch die Landschaft fetzt.
So könnte es am 25. August 1939 gewesen sein, als ein wolkenbruchartiger Regen einsetzte und sich über das Dorf und die umliegenden Hänge ergoss. Schon bald vermochten die Kanalisationen und Bäche die Wassermassen nicht mehr zu fassen, und die gurgelnden Fluten begannen sich über die Straßen und Plätze zu wälzen.
Angst kriecht in ihr hoch. Warum muss sie ausgerechnet jetzt an diese Katastrophe von damals denken? Wie in einem Albtraum verschmelzen Geschichte und Gegenwart.
Von den umliegenden Höhen bahnten sich die Fluten ihren Weg, wälzten sich ins Dorf hinunter. Hänge kamen ins Gleiten und überschütteten die Straßen, sodass sämtliche Zufahrtsstraßen nach Wald unpassierbar waren. Erdgeschosswohnungen wurden mit Geröll aufgefüllt. Blitz und Donnerschlag erschütterten das Land.
Sie fühlt sich den Naturgewalten ausgeliefert. Keine Freundin, mit der sie die Angst teilen kann. Auch das Unter-die-Bettdecke-Kriechen hilft längst nicht mehr. Auf einmal kommen ihr Iris’ Worte in den Sinn. Die Menschheit wird die Folgen der Umweltzerstörung durch die Elemente zu spüren bekommen . Was, wenn ihr Haus ins Rutschen kommt oder der Sturm das Dach wegfegt?
Am Samstag, 2. September 1939, überfielen Hitlers Armeen Polen. Danzig wurde dem Deutschen Reich einverleibt. Die jungen, starken Männer, die im Dorf dringend für die Aufräumungsarbeiten gebraucht worden wären, wurden eingezogen.
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