Mondmilchgubel Kriminalroman
zu Hause zu bleiben. Aber weil im Oberholz kein Gottesdienst mehr gehalten werden konnte, beschlossen sie, dass jeder zur Mittagszeit auf eine Anhöhe steigen solle, und woher er läuten höre, dort solle er Kirchgenosse werden.
Der Oberholzer von Oberholz stieg gegen die Mittagszeit in die Stöck hinauf und hörte dort die Glocken von Eschenbach. Daher blieb er dort kirchgenössig. Der Oberholzer von Niederholz jedoch hörte das Geläute von Wald. Seither ging er dort zur Kirche. Wald war aber damals schon reformiert. Drum wurde das Niederholz vom Oberholz abgetrennt. Seither ist das Niederholz zürcherisch und reformiert.
Viktoria ist froh, dass im Gegensatz zu früher nun das ganze Haus beheizt werden kann. Ihr Schlafzimmer liegt im ausgebauten Dachgeschoss. Weil das Fenster an der südlichen Giebelseite nur wenig Licht hereinlässt, hat sie eine Dachluke einbauen lassen. In der Nacht kann sie manchmal das Rauschen des Wassers hören, das von den Waldhängen ins Tal stürzt.
Es gefällt ihr, dass ihr Haus Teil der bewegten Textilindustriegeschichte dieser Gegend ist. Sie stellt sich gern vor, wie hier einstmals gesponnen und gewoben wurde. Wie der Hausbesitzer als Tuchkrämer mit seiner ›Chräze‹ durch die Gegend zog, die Stoffe eingewickelt in schwarzes Wachstuch als Schutz gegen die Witterung, während seine Frau sich der Seidenweberei widmete, die Kinder Spulen herstellten und die Großeltern Tuch für Hosen woben. Vielleicht war der Besitzer des Hauses aber auch ein Bauer gewesen, der die Stube an Heimarbeiter ausgemietet hatte. Vertragsurkunden zeigen, dass nicht selten die gleiche Stube gleichzeitig zweimal vermietet wurde, eine Familie sich demnach mit bloß einer Stubenhälfte zu begnügen hatte.
Viktoria schließt die Augen. Sie würde dieses satte Gefühl der inneren Ausgeglichenheit für nichts in der Welt wieder hergeben. Sie genießt das Privileg, den Zeitrahmen selber bestimmen zu können. Vorbei die Hetze, vorbei der Drang, überall dabei sein zu wollen. Sie arbeitet, wenn sie Lust dazu hat. Dank ihrem verstorbenen Mann kann sie sich diesen luxuriösen Lebensstil leisten. Bald würde sie Mitte 50 sein. Sie kennt die langsam einsetzenden Beschwerden und die Abstriche im Berufsleben. Meistens gibt sie sich damit zufrieden, würdevoll zu altern.
Es wird zunehmend dunkler. Als würde am Himmel ein schwarzer Vorhang zugezogen. Der Wind frischt auf, schiebt die zähe Wolkendecke vor sich her. Sie eilt ins Haus, um alle Fenster zu schließen.
Früher pflegte sie ihre Jahrestage mit viel Brimborium zu feiern, wie es im Journalistenmilieu halt so üblich war. Wer Geburtstag hatte, lud ein. Meistens ließ sie auf ihrer Dachterrasse in der Stadt eine Party steigen, die gewöhnlich erst in den frühen Morgenstunden endete. Damals steckte sie die unangenehmen Nachbeben noch locker weg. Lange Arbeitstage, wenig Schlaf, dafür viel Alkohol und unzählige Zigaretten waren die Norm. Eines Tages zog ihr Körper die Notbremse. Zuerst setzte sie ein Bandscheibenvorfall außer Gefecht und dann, nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes, folgte ein Nervenzusammenbruch.
In ihrem Leben war Lucien der ruhige Pol gewesen, dessen Stärke es war, sich durch nichts aus der Ruhe bringen zu lassen. Im Gegensatz zu ihr war er ausgesprochen häuslich veranlagt. Dass ausgerechnet er einem Herzinfarkt anheimfallen musste, bleibt unerklärlich, zumal er, abgesehen von einer gelegentlichen Zigarre, weder geraucht noch mit Übergewicht zu kämpfen hatte. Seit seinem Tod ist ihr klar, dass nichts im Leben vorhersehbar ist. Die ehrgeizige Frau von damals gibt es nicht mehr. Aus der Stadtratte war eine Feldmaus geworden. Heute denkt sie kaum mehr an die Zukunft, während sie sich früher ein Leben ohne Agenda und ohne hochstrebende Ziele nicht vorstellen konnte. Jetzt kommt es vor, dass sie vergisst, welcher Wochentag es gerade ist.
Sie geht in die Küche und prüft, ob sie alles eingekauft hat. An diesem Abend wird sie für Iris und sich ein Festessen kochen. Als Vorspeise einen Tomatensalat mit mozzarella di bufala . Die Tomaten haben sie ein kleines Vermögen gekostet. Als Pasta wird sie spaghettini alle vongole servieren. Die Muscheln hat sie gestern eigens bei ihrem Fischhändler in Zürich gekauft. Obwohl sie die geschäftlichen Dinge heute weitgehend über E-Mail abwickelt, fährt sie immer noch gern in die Stadt, wenn auch längst nicht mehr so häufig wie früher. Sie liebt die milden Abende in Zürich, wenn sich die
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