Mondschwingen (German Edition)
Prolog
Der Witterbarde fiel. Er verstand, dass er
sterben musste, dass es vorbei war, einfach so. Die Stadt, mit ihren Gassen,
Lichtern und Türmen mit Wimpeln darauf, rückte näher und mit ihr auch der Tod.
Wind peitschte ihm ins Gesicht, rüttelte an
seinen Federn und während der Vogel fiel, verfluchte er sich und den Winter. Er
hatte das Gewitter angefleht, ihn in Flammen zu verwandeln, damit ihm der Nebel
und der kommende Schnee nichts mehr anhaben konnten. Er hatte gesungen, so wie
er es immer tat, und ein paar Augenblicke später hatten ihn die Feuerfinger
erwischt. Am linken Flügel.
Liv wandte den Blick ab und schaute über
die Dächer ihrer Stadt. Sie stand an der Balkonbrüstung, mit dem Gesicht im
Schatten und der Nase im Wind.
„Meinst du“, raunte Liv „der fallende Barde war ein böses
Omen?“ Sie wusste, dass Bartock hinter ihr stand, ihr Berater ließ sie selten
aus den Augen. „Man sagt, fallende Witterbarden bringen Unheil.“
Bartock lachte leise, er lachte immerzu.
„Habt Ihr nicht zugesehen? Er ist nicht tot, der Pechvogel hat überlebt.“ Er
rückte näher heran und zeigte auf die Stadt hinab. Der Witterbarde lag auf
einem Gewirr aus Tüchern, die von Dach zu Dach gespannt waren und die Straßen
darunter in Finsternis hüllten. Einen Moment lang suchte der Vogel nach
Gleichgewicht, breitete die Flügel aus und stieß sich schließlich ab. Sein
Gesang klang schiefer denn je.
„Der Tod des Königs hat dem Vogel das Leben
gerettet. Nahezu poetisch.“ Bartock schürzte die Lippen.
Vor einem Jahr war der König gestorben, den
dicken Spielmann hatte man ihn genannt, weil er eine Vorliebe für Feuerspucker
und Seiltänzer gehabt hatte. Er war im Schlaf gestorben, ein passender Tod für
solch einen edlen, dennoch fürchterlich trägen König. Zum Gedenktag hatte man
schon gestern Nacht Tücher und Decken über die Straßen gespannt und auf manchen
Dächern flatterten Fahnen. Schwarze Fahnen mit roten Rosen darauf, deren
Blätter herabfielen und sich in Tränen verwandelten.
„Ihr solltet hereinkommen, bevor Ihr Euch
erkältet.“ Bartock hustete demonstrativ und drehte der Stadt den Rücken zu.
„Natürlich“, murmelte sie und folgte ihm,
als sei sie der Berater und er der König.
„Sie
können nicht mehr lange auf sich warten lassen.“ Bartock trat ans Geländer der
Empore und blickte mit geblähten Nasenflügeln in den darunterliegenden
Thronsaal.
Groß sah er aus und grau. Liv hasste alles
hier, die hohe Decke, die Wände, die steinernen, königlichen Vorfahren. Groß
und männlich standen sie dort und blickten einander gegenseitig an, starre
Riesen, gefangen in Marmor und geschliffenem Fels.
Bartock klopfte sich auf die Brust und
legte seine Hände auf den dicken Bauch. „Glaubt Ihr wirklich“, flüsterte er
„dass sie einwilligen werden?“
Liv sah ihn böse an. „Von Glauben habe ich
niemals geredet, Bredaludin Bartock. Ich kann nur hoffen, mehr nicht. Und tu
nicht so, als seien es Götter. Es sind Magier, mehr nicht.“ Magier . Es klang so fremd aus ihrem
Mund. Die vier letzten Lebenden hatte sie eingeladen, nachdem ihre Spione sie
gefunden hatten, im hohen Norden.
„Ich weiß nicht, ob es richtig ist“,
gestand Bartock. „All das Elend … es sind unsere Feinde, gewiss …“ Er stockte
und sprach nicht weiter. Schritte waren zu hören, ganz leise nur, Stimmen am
Ende des Ganges.
Liv packte Bartock an den Schultern und sah
ihn an. „Du weißt, was du zu tun hast“, flüsterte sie. „Du hast den Dolch?“
Die Hand des Beraters tastete unwillkürlich
nach der Beule im Mantel. „Ich weiß nicht …“
„Ich hab es dir oft genug erklärt.“ Sie
klang wie eine Mutter, die genug vom Reden hatte. „Mach es, hörst du? Du kennst
die Kerker unter meiner Burg.“ Liv wusste, wie leer und hohl sich ihre Drohung
anhörte und plötzlich fühlte sie sich nur noch schwächer.
Ein Junge kam in den Saal gestolpert. Als
er sich verbeugte, fiel ihm der zerrupfte Hut vom Kopf. „Die Magier sind
bereit, Eure Majestät.“ Er hatte kaum ausgesprochen, da marschierten sie schon
herein.
Liv kam ihnen entgegen, die Treppe
hinunter. Bei jedem Schritt klapperten ihre Schuhe wie Donnerschläge.
Herrschaftlich und ehrwürdig wollte sie aussehen, als sie sich auf ihrem Thron
niederließ, doch in Wahrheit fühlte sie Angst.
Der älteste Magier verneigte sich und sah
sie mit zusammengekniffenen Augen an. Sein weißes Haar war nass vom Regen.
„Unsere Freude
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