Mondsplitter
ganz sicher, wo überhaupt die Frontseite des Hauses war.
Sie schrie auf. Das Wasser toste. Es reichte ihr jetzt bis an die Schultern, und ihre Füße verloren den Kontakt zum Boden.
Es stank nach Öl, toten Fischen und verfaultem Holz. Marilyn strampelte sich die Schuhe von den Füßen. Wo war Larry? Um Gottes willen, bemerkte er nicht mal, daß sie fehlte?
Die Flut strömte jetzt so schnell herein, daß Marilyn überhaupt nicht mehr dagegen ankam. Sie sah wieder die Fahrstuhltür vor sich.
Sie stieß sich den Kopf an.
Die Decke.
Irgendwo über sich hörte sie Rufe. Jemand rief ihren Namen.
Sie öffnete den Mund, wollte antworten, aber Wasser schwappte herein. Dann sah sie hinter sich Licht.
Es war das Treppenhaus. Jemand war im Treppenhaus.
»Hilfe!« schrie sie.
»Hierher!« Es war Larry!
Die Treppe hatte sich in einen Wasserfall verwandelt. Marilyn schob sich darauf zu, kämpfte gegen die Strömung an, kämpfte gegen die eigene Erschöpfung an.
Larry tauchte auf, hatte eine Taschenlampe in der Hand, hielt sich am Geländer fest. Er streckte die Hand aus, tastete nach Marilyn, bekam sie zu fassen. »Was machst du hier unten?« rief er.
Unter diesen Umständen war das eine unglaubliche Frage. »Ertrinken«, sagte Marilyn, obwohl sie wußte, daß er es nicht hören konnte. Aber er hielt sie fest.
Louise suchte einen Bademantel für sie heraus und bot ihr ein Schlafzimmer an. Marilyn war nach dem Erlebnis jedoch übernervös und konnte nicht schlafen, obwohl sie fror und müde bis auf die Knochen war.
Sie waren allein im Schlafzimmer. Louise hatte auch für Larry Ersatzkleidung gefunden, eine Nummer zu groß, aber das machte nicht viel aus. Er wirkte durch das Erlebnis nicht weniger erschüttert als Marilyn, und diese Erkenntnis rief eine Glut in ihr hervor, die sie schon lange nicht mehr erlebt hatte.
»Ich dachte schon, ich würde dich verlieren.« Er lag neben ihr, sein Gesicht in Dunkelheit. Das einzige Licht im Zimmer stammte von einer Uhr.
Marilyn sank ins Kissen zurück. »Es ist alles so schnell passiert.« Sie hatte bis eben geweint, und er hatte ihr immer wieder klarzumachen versucht, daß es okay war, daß sie jetzt in Sicherheit waren. Marilyn hatte nicht über die Menschen auf dem Bürgersteig sprechen können, über den Jungen und seine Mutter, und jedesmal, wenn sie es erneut versuchte, kamen die Tränen zurück.
»Ich liebe dich«, sagte er. »Ich wußte gar nicht, daß ich mit einer Heldin verheiratet bin.«
Es war ja nicht so, daß er dieses Bekenntnis lange nicht ausgesprochen hätte. Jeden Tag versicherte er ihr zeremoniell und getreu, daß er sie liebte. Ganz so, wie er immer bemerkte, daß ihm das Abendessen schmeckte. Es war eine Höflichkeitsfloskel, reflexhaft ausgesprochen. Aber nicht diesmal. Sein Ton war seltsam.
»Ich liebe dich auch, Larry«, sagte sie. Sie spürte die wechselnden Gezeiten der Gefühle und erinnerte sich noch, daß sie vor weniger als einer Stunde überlegt hatte, welche Vorteile es brächte, ihn gegen Marv einzutauschen. Seine freie Hand schlich sich unter den Bademantel. Sie stieß sie jedoch weg, und er wirkte verletzt.
»Marilyn«, sagte er wieder, verwirrt diesmal. »Alles ist in Ordnung!«
Sie blickte jedoch in die Dunkelheit, sah wieder den Jungen vor sich, seine vorwurfsvollen Augen. Sie waren braun gewesen, dachte Marilyn. Und sie wußte, daß sie diese Augen für den Rest ihres Lebens sehen würde.
5.
Mikrobus, Flugdeck, Sonntag, 14. April, 2 Uhr 10
»Was ist mit dem g-Anzug?«
Das g stand für Gravitation, und diese Montur war eine Art Unterbekleidung, die man unterhalb des Druckanzuges trug. Sie sollte verhindern, daß sich durch starke Beschleunigungskräfte das Blut in den Gliedmaßen sammelte. An Bord war nur ein g-Anzug vorhanden, den Saber getragen hatte und der jetzt in einem Aufbewahrungsfach hing. Tony öffnete es und verglich seine Größe mit den Beinlingen. Der Anzug war mehrere Zoll zu lang. »Ich denke, ich komme ohne ihn zurecht«, lächelte er. »Ich bin ohnehin nur wenige Minuten draußen.«
Die Luft in der Kabine war gegen Mitternacht richtig stickig geworden, und Saber hatte Masken und Lufttanks verteilt. Kurz nach zwei Uhr schalteten sie auf einen zweiten Satz Tanks um. Bis dahin war es auf dem Radarschirm ruhig geworden, und Tony entschied, daß es jetzt sicher genug war, um sich hinauszuwagen.
Er stieg in den D-Anzug (der auch ein bißchen zu groß war), kletterte in die Passagierkabine hinunter
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