Mondsplitter
würde einschnappen, sobald sie zufiel. Marilyn wäre ausgesperrt. Sie sah sich nach einem Stuhl um, mit dem sie die Tür offenhalten konnte, entdeckte aber keinen. Weiter hinten neben dem Fahrstuhl stand jedoch ein kleiner Tisch mit einer Lampe darauf. Marilyn stellte die Lampe auf den Boden und sicherte sich mit Hilfe des Tisches den Rückweg. Dann öffnete sie die Außentür und blickte auf die Straße hinaus.
Menschen liefen, gingen, humpelten vom Fluß weg Richtung Park. Ein paar saßen weiterhin in ihren Fahrzeugen und sahen verwirrt aus. Marilyn stand auf der obersten Stufe und hörte plötzlich ein Donnern. Die Erde zitterte, und es fühlte sich an wie bei einer heranfahrenden U-Bahn.
Ein Paar in mittleren Jahren, das Abendkleidung trug, lief vorbei. Der Mann blickte auf und sah Marilyn. »Laufen Sie!« schrie er.
Das Donnern kam aus dem Westen, vom Broadway her. Und wurde lauter. Weitere Menschen hasteten aus dem Bus. Jemand stürzte, aber niemand blieb stehen, um zu helfen. Ein Taxi versuchte, aus dem Stau auszubrechen, fuhr mit einem Satz auf den Bürgersteig, überfuhr eine junge Frau und knallte an einen Hydranten. Eine Wasserfontäne schoß hoch und schimmerte im Licht einer Straßenlaterne.
Im selben Augenblick strömte eine schwarze Flut um die Ecke, schoß brüllend über Lastwagen und Autos hinweg, riß die Schilder von Breyers Eiscreme am zweiten Stock des Carmody-Hauses ab. Die Straßenlaterne ging aus. Autohupen explodierten.
»Hierher!« schrie Marilyn. »Hier herauf!« Aber sie wurde vom allgemeinen Chaos übertönt.
Menschen rannten schreiend an ihr vorbei. Jemand versuchte, auf einen Brotlieferwagen zu klettern. Marilyn lief die halbe Treppe hinunter, versuchte, eine Frau am Arm zu packen und so auf sich aufmerksam zu machen, wurde aber weggestoßen.
Endlich wurde jemand auf den Fluchtweg aufmerksam, den sie anbot: ein Junge von etwa zehn Jahren, die Mutter im Schlepptau. Marilyn glaubte, daß sie aus dem Bus kamen, war aber nicht sicher. Die beiden suchten sich den Weg durch den Stau und waren immer noch fast fünfzehn Meter entfernt, als der Junge aufblickte und sah, wie Marilyn die Tür aufhielt. Die Frau war verängstigt. Beide riefen Marilyn etwas zu und rannten los.
Marilyn schätzte die Distanz ab und wußte, daß es sehr knapp war. Angst breitete sich auf den beiden Gesichtern aus. Die Frau stolperte und stürzte, und zu Marilyns Entsetzen blieb der Junge stehen und lief zurück. Er blickte über die Schulter zu Marilyn, und sie erwiderte den Blick und wußte, daß die beiden keine Chance hatten. Falls sie selbst wartete, riß die Flut auch sie mit. Das Geschehen erstarrte, gefror vor ihren Augen. Der Fluß stieg und floß über die Laster hinweg, verschluckte alles, und die Frau versuchte, den Jungen auf Marilyn zu zu schubsen. Das Kind schluchzte und zog an der Mutter, und Marilyn schloß die Tür, als die Flut vorbeiströmte.
Das Gebäude erbebte unter dem Aufprall. Fenster an anderen Stellen des Hauses barsten, und ein Sturzbach ergoß sich ins Innere. Weiteres Wasser schoß aus einem Stromanschluß hervor. Marilyn kreischte frustriert und trat den Tisch von der Innentür weg, damit die sich hinter ihr schließen konnte. Sie stürzte zurück in die Halle mit den Fahrstühlen, wo das Wasser schon knöcheltief stand. Sie drückte den Schalter und schluchzte und wartete lange auf den Fahrstuhl. Als er endlich eintraf, sprang sie hinein, und das Licht ging aus, und sie fand sich in völlige Dunkelheit getaucht. Die Tür wollte sich schließen, und Marilyns Überlebensinstinkt setzte sich durch. Sie blockierte die Tür, hielt sie offen und quetschte sich wieder hinaus in die Eingangshalle. Als sie es geschafft hatte, ließ sie die Tür los, und sie schloß sich mit einem nassen Klappern, ohne daß der Fahrstuhl jedoch losfuhr.
Marilyn stolperte durch die Dunkelheit, versuchte sich zu erinnern, wo die Treppe war. Das Gebäude knarrte und schien zu sinken. Der Boden war rutschig geworden, und der Sturzbach riß Marilyn von den Beinen.
Sie rappelte sich wieder auf, mußte schon fast schwimmen. Das Wasser wirbelte um ihre Schenkel. Irgendwas, eine Holzlampe, schwamm an ihr vorbei. Sie versuchte, sich ihren Weg an der Wand entlang zu ertasten. Die Wand ging jedoch immer weiter und öffnete sich einfach nicht zu einem Treppenhaus. War das auf der anderen Seite? Oder war es am anderen Ende des Korridors in der Nähe des Vordereingangs? Sie wußte es nicht mehr, war nicht mal mehr
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