Monika B. Ich bin nicht mehr eure Tochter: Ein Mädchen wird von seiner Familie jahrelang misshandelt (German Edition)
das?«
Georg wartete ab, bis ich mich beruhigt hatte. »Der Beweis!«, sagte er endlich. »Ich hab’s aufgenommen, damit wir einen Beweis haben. Dann müssen sie uns glauben. Dann können sie gar nicht anders.«
»Und wenn die beiden lügen?«, flüsterte ich. »Wenn sie behaupten, das bin ich nicht? Meine Stimme hört sich da ja ganz anders an, nicht wie normal.«
»Trotzdem!«, sagte Georg und drückte mir sein Beweisstück in die Hand. »Tu sie zu deinen Sachen. Pass gut auf sie auf! Du brauchst sie garantiert noch.«
Erst später fiel mir auf, dass er nicht » Wir brauchen sie noch« gesagt hatte, sondern » Du brauchst sie noch«. Absicht? Zufall? Ich werde es nie mehr erfahren.
Georg und ich wurden Verbündete. Rückhaltlos vertrauten wir einander unsere Gedanken, unseren Kummer und unsere Erlebnisse an. Nichts blieb ungesagt.
Das Geheimnis meines Vaters war gläsern geworden. Er geilte sich daran auf, dass jeder meiner Brüder voll im Bilde darüber war, was er mir antat. Was sollte dieses Wissen ihm schon anhaben? Ob sie davon wussten oder nicht – was tat’s? Er war der Herr, sein Wille geschah. Er hatte uns gezeugt, er zog uns auf, er wusch unser Gehirn. Wir waren die Marionetten im Panoptikum seines Lebens, Zuschauer, Zuhörer, Mitwisser und Mitspieler in einem. Wenn er wollte, dass wir nichts sahen, nichts hörten, so wurden wir sehenden Auges blind, hörenden Ohres taub und trauten den eigenen Wahrnehmungen nicht. Da sein Schweigegebot uns einsam machte, war jeder von uns mit seinen Wahrnehmungen allein. Kein Vergleich brachte die Wahrheit ans Licht. Keine Gemeinsamkeit machte uns stark. Wenn wir in den Augen meines Vaters je eine Seele besaßen, so hatte er sie fest im Griff.
Nur Georg hatte die Kraft, Widerstand zu leisten. Und er ermutigte mich, es auch zu tun. Er war der erste Mensch, der zu mir sagte: »Du kannst doch nichts dafür!«
»Meinst du?«, fragte ich. Es tat so gut, in Schutz genommen zu werden.
»Wenn einer so was macht, kommt er in den Knast«, sagte Georg. »Oder manchmal, da schneiden sie einem alles ab, so richtig mit ’nem Messer, zack und ab. Da singt er dann im Knabenchor und kann keiner Maus mehr was anhaben.«
»Quatsch!«
»Wohl!«, sagte Georg. »Der Kaplan hat’s gesagt.«
Der Kaplan? Hatte Georg etwa mit dem Kaplan gesprochen? Starr vor Entsetzen, wagte ich nicht nachzufragen.
Georg erriet meine Gedanken. »Keine Angst, von uns weiß er nichts. Ich hab nur mal gefragt, ganz allgemein, so als würd’s mich eben interessieren. Da hat er’s gesagt und war total wild.«
Papas Messer fiel mir ein und meine Schmerzen. Wie viele Narben hatte ich jetzt schon? Eine Gänsehaut überzog mich. Würde Papa brüllen vor Schmerz, wenn es einer bei ihm machte?
»Bloß schade, dass man bei ’ner Mutter nichts absäbeln kann«, murmelte Georg.
Ich schüttelte den Kopf, verscheuchte die Bilder darin. »Wieso?«
»Weil«, Georg schrie fast, »weil Mama will, dass ich das mit ihr mache, was Papa mit dir macht.«
»Du?« Ich starrte Georg an.
»Streicheln, abknutschen, abfummeln, ablecken, mit dem weißen Ding rummachen. Äh! Igittigitt!« Georg schüttelte sich. »Und dann, wenn’s ihr kommt, das Gestöhne. Und dann will sie noch mehr mit dem Ding, aber mit dem großen. Ich halt’s nicht mehr aus! Die eklige Fettsau, die doofe! Und sobald ich’s kann, muss ich’s ihr richtig besorgen, sagt sie. Sie will’s mir beibringen, für später und so.«
Ich sah Mama vor mir, rosig und aufgekratzt, frisch aus dem Bad, einen Arm um Georg gelegt, und sie flötete: »Na, bist ja doch zu was zu gebrauchen, ein echtes Naturtalent. Wenn du nicht wärst, würde ich dich ganz schön vermissen. War ja doch nicht so schlecht, dass ich dich noch bekommen habe.« Oder Mama krank im Bett, leidend: »Schorski, komm, verwöhn Mama ein bisschen! Na, komm schon unter die Decke!« Und ich sah Georg, wie er zu ihr hineingeht und wie er bleich und mit verquollenen Augen wiederkommt, wie er danach ausrastet bei jeder Kleinigkeit.
Endlich verstand ich. Nichts blieb zu sagen. Stumm hielten wir uns im Arm. Niemals mehr würde ich Mama zu ihr sagen. Dieses Ungeheuer!
Von dieser Stunde an war die Frau, die mich geboren hatte, nicht mehr meine Mutter.
XXII
Ich war 15, als mein Vater mich eines Tages fragte, warum ich schon so lange keine Binden mehr aus dem Körbchen genommen hätte. Wieder einmal lag er bei mir im Kinderzimmer. Bis auf das eine hatte er sich schon alles von mir genommen. Doch
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