Monika B. Ich bin nicht mehr eure Tochter: Ein Mädchen wird von seiner Familie jahrelang misshandelt (German Edition)
Vorwort
von Karin Jäckel
Mit dem Thema sexueller Missbrauch von Kindern wurde ich erstmals konfrontiert, als ich an einem Buch über Vergewaltigung arbeitete, das 1988 unter dem Titel »Es kann jede Frau treffen« erschien. Die Gespräche mit Frauen, die in ihrer Kindheit vergewaltigt worden waren – meist von Vätern oder Großvätern, Brüdern oder Onkeln –, raubten mir den Schlaf und die innere Ruhe.
Die Schicksale, von denen ich erfuhr, waren teilweise so erschütternd, dass ich zunächst glaubte, es könne sich nur um Ausnahmeerscheinungen handeln. Doch als ich mich mit der Forschungsliteratur zu beschäftigen begann, wurde mir klar: Sexueller Kindesmissbrauch ist geradezu alltäglich; er spielt sich gleichsam vor unseren Augen ab, ohne dass wir es merken. Es dürfte in unserer Gesellschaft das bestgetarnte Verbrechen mit der niedrigsten Aufklärungsquote sein. Denn die Opfer decken oftmals die Täter – aus Liebe.
Mit meinem Wissen wuchs auch mein persönliches Engagement in dieser Sache. Wer von diesen Taten weiß und dennoch schweigt, macht sich mitschuldig. Ich beschloss, mich journalistisch mit dem Thema zu beschäftigen. Gezielte Recherchen und ein wenig auch Freund Zufall brachten mich mit immer mehr Opfern sexuellen Kindesmissbrauchs ins Gespräch. So entstanden 1988 zwei Bücher (»Tatort Familie: Inzest«, »Du bist doch mein Vater«) sowie ein zdf-Film mit dem Titel »Das kannst du nicht so einfach abwischen«.
Durch die Arbeit an dem Film lernte ich auch Monika B. kennen. Rund 17 Jahre sexuellen Missbrauchs lagen damals hinter ihr. Alle Versuche, dem Zugriff ihrer Familie zu entkommen, waren gescheitert. Nun aber hatte sie die wohl am härtesten erkämpfte und zugleich folgenschwerste Entscheidung ihres Lebens getroffen: Sie zeigte ihren Vater an.
Zu Recht sah die damals 21-Jährige in dieser Entscheidung die einzige Chance, die Verletzungen zu heilen, die ihr Vater, ihre Mutter und ihre Brüder ihr zugefügt hatten. Die Anzeige, so weiß sie heute, war der letzte ihr verbliebene Schritt, der sie in ein menschenwürdiges, selbstbestimmtes Leben führen konnte.
Dies war beileibe kein Entschluss, der, einmal gefasst, bleibende Erleichterung verschafft hätte und nie bereut worden wäre. Im Gegenteil, es war ein Entschluss, den Monika bis hin zur Selbstvernichtung ständig neu erkämpfen musste. Sie durchlitt in diesen Kämpfen alle Abgründe, die ein Kind erfährt, das seinen Vater dem Gericht ausliefert, obwohl es ihn liebt.
Diese inneren Kämpfe waren zuweilen so schwer, dass Monika lieber sterben wollte, als mit den immer massiver auftauchenden Erinnerungen, der Qual der notwendigen Verhöre, Glaubwürdigkeitsgutachten und Therapieversuche sowie der Angst vor der Rache ihrer einstigen Peiniger weiterzuleben.
Als das zuständige Landgericht Monikas Vater im Februar 1992 »wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen und Beischlaf zwischen Verwandten zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren« verurteilte – da waren über vier Jahre seit der Strafanzeige vergangen. Nur eine so starke, trotz aller Verzagtheit mutige Persönlichkeit wie Monika B. konnte es schaffen, immer aufs Neue und jedes Mal entschlossener aus den Phasen tiefster Verzweiflung aufzusteigen, um weiterzukämpfen.
Einen wichtigen Teil ihres Kampfes sehen Sie hier vor sich: unser Buch. Es entstand in Jahre währenden Gesprächen, in deren Verlauf Monika und ich Vertrauen zueinander fassten und Freundinnen wurden. Sie ließ es zu, dass ich in die Tiefe ihres Lebens eintauchte, und erschloss sich mir weiter als je einem Menschen zuvor.
Neben Gerichtsprotokollen, psychologischen Gutachten und dem Gerichtsurteil halfen mir Hunderte von Briefen, die Monika mit ihrem ersten Psychotherapeuten sowie einem Freund wechselte, Zeiträume zu erschließen, Erinnerungen zu ordnen, Zusammenhänge herzustellen – kurz: 25 Lebensjahre neu aufzurollen. Wo trotz aller Bemühungen Lücken klafften, zogen wir ein Tagebuch zu Rate, das Monika über viele Jahre hinweg geführt hatte.
Dieses Buch soll Menschen, die Ähnliches erlebt haben wie Monika B., Mut machen, ihre Vergangenheit aufzuarbeiten. Es soll Müttern die Augen schärfen und ihnen deutlich machen, dass das Undenkbare wahr sein könnte. Es soll Vätern vor Augen führen, wie schnell ein Kinderleben zerstört ist – und die vielen, vielen Väter, die ihre Kinder lieben und nicht missbrauchen, auf den Plan rufen gegen die
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