Monströs (German Edition)
mit zittriger Hand, hob er die Pistole und zielte auf seinen Bruder. Diesmal war es etwas anderes. Die Waffe schien plötzlich Tonnen zu wiegen.
»Vier, fünf, sechs, ...«
Er versuchte sich klar zu machen, dass sein Bruder ihn sein Leben lang nur ausgenutzt hatte. Doch es gelang ihm nicht. Wenn es hart auf hart gekommen war, hatte sein Bruder immer zu ihm gehalten. Bilder aus ihrer gemeinsamen Jugend zuckten wie Blitze an seinem inneren Auge vorbei.
Einmal war er in den Fluss gefallen, an dem sie als Kinder gespielt hatten. Sein älterer Bruder war ohne zu zögern in das eiskalte Wasser gesprungen und hatte ihn gerettet.
»Verdammte Scheiße«, schrie er in das Handy.
»Sieben, acht, neun, ...«
Dann sah er Sarah vor sich. Sarah, die weinte, weil ihr ein Irrer eine Pistole an den Kopf hielt. Sie war seine Zukunft.
»Zehn.«
Blitze zuckten in schneller Folge durch den Raum. Jeder begleitet von einem kurzen puffenden Geräusch. Jeder Treffer schüttelte den Körper des Gefesselten. Er hörte nicht auf, bevor er das Magazin vollständig leer geschossen hatte.
Der Kopf seines Bruders hing leblos zur Seite, als er fertig war. Das ehemals weiße Unterhemd war jetzt vollständig vom Blut rot gefärbt. Er hielt das Handy noch immer ans Ohr und die Waffe auf seinen Bruder gerichtet.
»Sind Sie jetzt zufrieden?«, schrie er.
Es kam keine Antwort. Sekunden vergingen. Die Leitung stand noch.
»Das haben Sie gut gemacht. Jetzt müssen Sie nur noch das Notebook ausschalten. Dann sind wir fertig«, sagte die Stimme.
Er blickte hinüber zu dem Computer. Die Aufnahme lief noch immer. Er ging zu dem Tisch und klappte das Display zu.
»Ich habe getan, was Sie wollten. Jetzt lassen Sie meine Frau frei«, sagte er.
Wieder dauerte es ein paar Sekunden, bis die Stimme antwortete.
»Nein!«
Er traute seinen Ohren nicht. Bevor er seinen Verstand zum Verstehen zwingen konnte, sprach die Stimme weiter.
»Ich habe nicht vor, Ihre Frau am Leben zu lassen.«
»Aber ... Sie haben gesagt ...«
»Ja, ich weiß, was ich gesagt habe«, unterbrach ihn die Stimme.
»Und?«
»Seit wann vertraut man einer verfremdeten Stimme am Telefon? Aufgepasst! Gleich können Sie hören, wie Ihre Frau stirbt. Und wissen Sie was? Sie allein sind schuld daran!«
»Nein, warten Sie!«
In diesem Moment fiel der Schuss am anderen Ende der Leitung.
Er glaubte, zusammenzubrechen. Seine Welt zerfiel mit diesem Geräusch in tausend Scherben, unmöglich, sie je wieder zu einem Teil zusammenzufügen.
»Na, wie fühlt sich das an?«, sagte die Stimme, dann legte sie auf.
Er fiel auf die Knie. Er beugte sich nach vorne, berührte mit der Stirn den Fußboden. Sein Mund öffnete sich. Doch es kam kein Laut. Es war nur das Bild eines lautlosen Schreis. Dann kamen die Tränen. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals geweint zu haben. Er ließ sich zur Seite fallen und lag da, zusammengekauert wie ein kleines Kind.
Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Er beruhigte sich ein wenig. Vielleicht hatte die Stimme nur geblufft. Sein Bruder war ein Schwein gewesen. Auch gab es unzählige Gründe, ihn selbst oder besser Raphael hinter Schloss und Riegel zu bringen. Aber was für einen Sinn ergab es, eine unschuldige Frau zu ermorden? Vielleicht hatte die Stimme daneben geschossen und seine Frau lebte noch. Mit einem Satz war er auf den Beinen. Eddie Kaltenbach steckte die Pistole in seine Jackentasche und rannte los.
5
Martin war kurz davor gewesen einzuschlafen, als es an seine Zimmertür klopfte. Er ging zur Tür und öffnete. Es war Selma. Auf ihrem Gesicht war ein breites Lachen und ihre Augen strahlten, als sie hereintrat und ihn umarmte. »Schön, dass du da bist«, sagte sie.
Selma Nowak war die beste Freundin seiner Frau Anna gewesen. Sie war jetzt erst neunundzwanzig und sah umwerfend aus. Sie war groß und schlank und hatte mittelblonde lange Haare, die sie zumindest bei der Arbeit zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte.
Martin hatte Selma erst nach Annas Tod näher kennen gelernt und mit der Zeit der gemeinsamen Trauer, waren auch sie Freunde geworden. Sie war der netteste Mensch, den er kannte.
Als sie ihn endlich losließ, musterte sie ihn mit besorgtem Blick.
»Du fühlst dich nicht besonders, was?«
Martin zuckte mit den Achseln.
»Es geht schon. Ich hab nur entsetzliche Kopfschmerzen.«
»Lügner«, sagte sie und lächelte dabei. »Ich weiß, was heute für ein Tag ist. Und das, was du in deinem Kopf spürst, sind
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