Monströse Welten 1: Gras
1
•••••••••••••••••••••••••••••••••••••••
Gras!
Das Grasland erstreckt sich über Millionen Quadratkilometer; unzählige windgepeitschte Tsunamis aus Gras, tausend sonnenverwöhnte karibische Seen aus Gras, hundert wogende Ozeane, jede Welle purpurn und bernsteinfarben, smaragd- und türkisfarben changierend, in allen Farben des Regenbogens. Sie färben die Prärie streifen- und punktförmig ein, und das Gras – hoch und niedrig, grannig und glatt – schafft sich seine eigene Geographie. Auf manchen Hügeln erreichen die Halme eine Höhe von zehn großen Männern; Grastäler, deren Boden weich wie Moos ist und auf dem Mädchen sich betten, wenn sie an ihren Liebsten denken, auf dem Männer sich niederlegen und an ihre Geliebte denken; Grasinseln, in denen alte Männer und Frauen am Ende des Tages stumm verweilen und von Dingen träumen, die sich ereignet haben könnten, sich vielleicht ereignet haben. Alles Gemeine, natürlich. Kein Aristokrat würde sich in der Prärie zum Träumen niederlassen. Aristokraten haben zu diesem Zweck Gärten, falls sie überhaupt träumen.
Gras. Rubinrote Gebirgszüge, blutrote Hochebenen, rötlich schillernde Sümpfe. Saphirfarbene Grasmeere, durchsetzt von dunklen Grasinseln mit großen grannigen Bäumen aus Gras. Unendliche Weiden mit silbernem Heu, über welche die großen Tiere wie Mähdrescher in diagonalen Linien hinwegziehen und nur die Stoppeln zurücklassen, die in der wie flüssiges Silber wogenden Wildnis schnell wieder nachwachsen.
Hochebenen leuchten orangefarben im Sonnenuntergang. Aprikosenhaine glühen in der Morgendämmerung. Samenkugeln glitzern wie Sterne. Blütenkelche wie feine Spitze, die alte Frauen aus der Kommode holen, um sie ihren Enkeltöchtern zu zeigen.
»Diese Spitze wurde vor langer Zeit von Nonnen geklöppelt.«
»Was sind denn Nonnen, Großmutter?«
Die Dörfer sind weit über die endlose Savanne verstreut und von einer Mauer umgeben, um das Gras abzuhalten; sie bestehen aus kleinen, massiven Häusern mit starken Türen und schweren Fensterläden. Auf den kleinen Feldern und in den winzigen Gärten gedeihen Getreide und Früchte, während vor den Mauern das Gras wie ein planetenumspannender Vogel hockt, bereit, über die Mauer zu steigen und alles zu vertilgen, die Äpfel und Rüben, die alten Frauen am Brunnen und ihre Enkeltöchter.
»Dies ist eine Pastinake, Kind. Aus einer lange vergangenen Zeit.«
»Wie lange, Großmutter?«
Ebenso weit verstreut wie die Dörfer sind auch die Estancias der Aristokraten: das Anwesen der bon Damfels’, das Anwesen der bon Maukerden und all die anderen Gutshöfe, große reetgedeckte Häuser inmitten von Gärten mit Springbrunnen und Gerichtshöfen aus Gras, die von hohen Mauern umgeben sind – mit Toren, durch welche die Jäger zur Jagd aufbrechen und durch die sie wieder zurückkehren. Falls sie denn zurückkehren.
Und da kommen die Hunde mit hochgezogenen Lefzen und hängenden Ohren, schnüffeln an den Graswurzeln und setzen vorsichtig einen Fuß vor den anderen auf der Suche nach dem Es, dem allgegenwärtigen Es, dem Schrecken der Nacht, dem Töter der Jungen. Und seht, hinter ihnen kommen auf großen Reittieren die Reiter in ihren roten Mänteln, stumm wie Schatten kommen sie angeritten, reiten durch das Gras: der Jäger mit seinem Horn; die Treiber mit ihren Peitschen; das Feld, manche mit roten Mänteln, manche mit schwarzen, die runden Mützen tief ins Gesicht gezogen, die Augen auf die Hunde geheftet – und sie reiten immer weiter.
Heute wird Diamante bon Damfels der Jagdgesellschaft angehören – die junge Tochter Dimity -; sie hat die Augen geschlossen, weil sie den Anblick der Hunde nicht erträgt, und ihre Hände umklammern so fest die Zügel, daß die Knöchel weiß hervortreten. Um den Hals, schlank wie ein Blumenstiel, windet sich das weiße Halstuch, die schwarzen Stiefel glänzen, der schwarze Mantel ist ausgebürstet, und auf dem Kopf sitzt eine schwarze Mütze. Sie reitet immer weiter, zum ersten Mal in ihrem Leben, immer den Hunden nach.
Und irgendwo dort, in der Richtung, die sie eingeschlagen haben, in einem Baumwipfel vielleicht, denn hier und da gibt es auch Bauminseln in der weiten Prärie, steckt der Fuchs. Der mächtige Fuchs. Der wilde Fuchs. Der Fuchs weiß, daß sie
Weitere Kostenlose Bücher