Monströse Welten 2: Hobbs Land
gebrauchen.
Die Räumlichkeiten des Archivs von Hobbs Land befanden sich im gut gesicherten Keller der Zentralverwaltung. Auch wenn die Dateien so gut geschützt waren, durfte jeder Siedler sich per Computer Zugang zu ihnen verschaffen, sogar über den Hochleistungsrechner auf Sams Schreibtisch. Sal stellte sich zwischen Stuhl und Tisch und wies den Computer an, die Archive anhand des Suchkriteriums ›Gott‹ zu sichten. Umgehend präsentierte das Gerät ihr einen endlosen Katalog von Optionen, Begriffen und Abbildungen. Zunächst erschienen alte Gottheiten wie Baal, Thor und Zeus, die auf Menschenheimat verehrt worden waren, und dann schloß sich ein Verzeichnis aller menschlichen und nichtmenschlichen Gottheiten an, mit denen man auf die eine oder andere Art Kontakt gehabt oder die man schlicht erfunden hatte.
»Götter der Owlbrit«, sagte sie ungeduldig, was der Monitor mit einem roten Feuerwerk quittierte, bevor der nächste Katalog erschien. Überwiegend bestand er aus drögen wissenschaftlichen Diskursen, die seit der Besiedlung archiviert worden waren; daran war sie aber nicht interessiert. »Primärquellen«, murmelte sie, wobei sie sich fragte, weshalb sie immer erst beim dritten oder vierten Versuch das gewünschte Ergebnis erhielt. »Von den Owlbrit«, präzisierte sie und grunzte zufrieden, als das Originalinterview mit dem Alten erschien. Er oder sie oder es hockte reglos in einer Ecke, wobei die fragilen Beine wie ein Spitzensaum vom Rumpf abstanden. Ein blasser Linguist befragte ihn, wobei ein Suchlaufwerk des Translators nervtötend quietschte. Alles in allem bestach das Interview weder durch seine Tonqualität noch durch spektakuläre Erkenntnisse, aber zumindest wußte sie am Schluß, daß Birribat recht gehabt hatte. Der Alte hatte gesagt, daß dieser Gott, Bondru Dharm, der letzte sei. »Aber nur der letzte der Owlbrit«, hatte der Alte angemerkt und den Linguisten damit ein neues Rätsel aufgegeben.
Das Interview gab indes keinen Aufschluß über den Zeitpunkt der Existenz der früheren Götter. Allerdings gab es noch genügend Ruinen anderer Tempel in der Siedlung Eins – zwei auf der Hochebene im Norden der Siedlung und zwei weitere in der Nähe des Tempels von Bondru Dharm –, um diese Frage zu beantworten. Weil einer der nördlichen Tempel fast vollständig erhalten war (nur das Dach war eingestürzt), lag der Schluß nahe, daß in der jüngeren Geschichte wenigstens ein Gott existiert haben mußte.
Sal wußte über die Ruinen Bescheid, auch ohne das Archiv zu befragen. Sie waren nämlich ein jahrelanger Diskussionsgegenstand der Siedler gewesen. Sollte man sie schleifen? Konnten sie einer anderen Verwendung zugeführt werden? Von der jüngsten Ruine abgesehen, waren von den anderen nur noch die äußeren und inneren Ringmauern erhalten, die Stümpfe der Gewölbebögen, ein paar Metallfragmente und Reste des Mosaikfußbodens. Auch bei der jüngsten Ruine waren das Dach, die Türen und Fenster schon zerfallen. Das galt auch für die Sitze im Versammlungsraum, obwohl die trogförmige Arena ohnehin für Menschen völlig ungeeignet gewesen wäre. Angesichts des ganzen Disputs war es ein Wunder, daß die Ruinen überhaupt noch existierten. Die beiden Tempel im Zentrum der Siedlung beanspruchten jedenfalls nur Platz, der anderweitig sinnvoller zu nutzen gewesen wäre. Wenn Bondru Dharm nun starb, würde der Punkt sicher wieder auf die Tagesordnung gesetzt werden.
Sal schaute vom Standbild auf dem Monitor auf und sah, daß ihr Bruder neben ihr stand. Er verzog keine Miene, was ungewöhnlich war für Sam. Er pflegte nämlich entweder zu grinsen oder griesgrämig dreinzublicken, wobei er die buschigen Brauen wölbte und dann an einen Kobold erinnerte, was sogar eher zurückhaltenden Naturen eine amüsierte Reaktion entlockte. Stumm nahm er neben ihr Platz. Er wirkte gestreßt und angeschlagen. Sie hörte die Geräusche von vielen Leuten. Die Schritte hallten leise wider auf der Straße, die um diese Zeit sonst menschenleer war.
»Sam?« fragte sie. »Hat es einen Unfall gegeben oder ist sonst etwas passiert?«
Er antwortete nicht. Sie ging zum Fenster und sah, daß sich eine schweigende Menge auf der Straße versammelt hatte; nicht direkt vor dem Tempel, sondern seitlich versetzt. Es handelte sich um mehrere hundert Männer, Frauen und sogar Kinder – fast die gesamte Bevölkerung der Siedlung. Dann fielen die Menschen auf die Knie, wobei die Bewegung sich wie eine Welle durch die
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