Montags sind die Eichhörnchen traurig: Roman (German Edition)
verstand.
Na, Madame Cortès, haben Sie nach »dem, was passiert ist«, nicht daran gedacht, umzuziehen? Wollen Sie wirklich in diesem Haus wohnen bleiben? In dieser Wohnung?
Die Stimmen wurden leiser, sie packten die Anführungszeichen aus, sie schlichen auf Zehenspitzen vorwärts, sie setzten eine begierige, verschwörerische Miene auf, als wären »sie« in alles eingeweiht … Das ist doch nicht normal, so was … Warum wollen Sie unbedingt bleiben? Warum ziehen Sie nicht um und versuchen, das alles zu vergessen? Na, Madame Cortès?
… weil
Sagte sie, kerzengerade stehend, den Blick in die Ferne gerichtet. In der Schlange im Supermarkt oder beim Bäcker. Musste nicht antworten. Musste nicht einmal so tun, als würde sie antworten.
Es scheint Ihnen nicht besonders gut zu gehen … Glauben Sie nicht, Sie sollten sich Hilfe suchen, Madame Cortès? Ich weiß nicht, jemanden … der ihnen helfen könnte … So ein schrecklicher Verlust! Seine Schwester zu verlieren, ist schmerzhaft, das verkraftet man doch nicht allein … jemand, der Ihnen helfen könnte, das zu verarbeiten …
Zu verarbeiten …
Erinnerungen verarbeiten?
Iris’ Lächeln verarbeiten, Iris’ große blaue Augen, Iris’ langes schwarzes Haar, Iris’ spitzes Kinn, die Traurigkeit und das Lachen in Iris’ Blick, die Armreife, die an Iris’ Handgelenken klirrten, das Tagebuch, das Iris in ihren letzten Tagen geführt hatte, das glückliche Martyrium in der Wohnung, wo sie gewartet hatte, gewartet auf ihren Henker, den Walzer im Wald, beschienen vom Licht der Autoscheinwerfer?
Eins, zwei, drei, eins, zwei, drei … eins, zwei, drei.
Diesen langsamen, langsamen, langsamen Walzer …
… Frieden finden, diese quälenden Erinnerungen vertreiben. Dann könnten Sie auch wieder besser schlafen, Sie hätten keine Albträume mehr, denn Sie haben doch Albträume, nicht wahr? Sie können es mir ruhig erzählen, das Leben war auch nicht immer gut zu mir, wissen Sie … Ich hatte auch mein Päckchen zu tragen …
Die Stimme wurde süßlich, widerlich süß, sie bettelte um Einzelheiten.
Warum, Madame Cortès?
… weil
… oder wieder anfangen zu arbeiten, schreiben Sie doch, einen Roman natürlich … das würde Sie ablenken, Ihre Gedanken beschäftigen, angeblich soll das sogar heilen, Schreiben sei eine Therapie, heißt es … dann würden Sie nicht die ganze Zeit daran denken, an … na ja, Sie wissen schon, an diesen … diesen schrecklichen … und die Stimme stockte, verklang im schamvollen Verschweigen dieses Ereignisses, das man nicht zu benennen wagte … Warum beschäftigen Sie sich nicht wieder mit dieser Zeit, die Sie so zu lieben scheinen? Dem zwölften Jahrhundert. Das war es doch, oder? Das zwölfte Jahrhundert ist Ihre Spezialität, nicht wahr? Was das zwölfte Jahrhundert angeht, da macht Ihnen so leicht keiner was vor! Alle Wetter! Man könnte Ihnen stundenlang zuhören. Erst neulich abends habe ich zu meinem Mann gesagt, diese Madame Cortès, wie gebildet die doch ist! Man fragt sich, wo sie das alles herhat! Warum denken Sie sich nicht noch so eine Geschichte aus wie die, die Ihnen Glück gebracht hat? Die gibt es doch sicher zuhauf!
… weil
Sie könnten eine Fortsetzung schreiben! Die Leute sind ganz wild darauf! Tausende, was sag ich da, Hunderttausende können es kaum erwarten! Genau wie ich. Was für einen tollen Erfolg Sie mit diesem Buch doch hatten! Wie hieß es noch gleich? Die wunderschöne Königin , ja? Nein … Was sagen Sie? Ach, natürlich! Die demütige Königin , ich habe es selbst nicht gelesen, ich hatte keine Zeit, wissen Sie, mit dem ganzen Haushalt, dem Bügeln, den Kindern … Aber meine Schwägerin fand es ganz großartig, und sie hat versprochen, es mir auszuleihen, sobald sie es zurückbekommt, denn im Moment hat sie es einer Freundin geliehen … Bücher sind ja so teuer. Es hat nicht jeder das Glück, so … Also, Madame Cortès, schreiben Sie doch eine kleine Fortsetzung … Ihnen fließt das doch aus den Fingern … Wenn ich Zeit hätte, würde ich auch schreiben, da können Sie Gift drauf nehmen … Ach! Wissen Sie was, wenn Sie wollen, erzähle ich Ihnen meine Lebensgeschichte, um Sie zu inspirieren! Sie würden sich nicht langweilen, das können Sie mir glauben!
Zufrieden verschränkten sich die Arme über der Brust. Der Blick funkelte, der Hals reckte sich, die Augenbrauen zogen sich zusammen … Eine Maske äffischer Nächstenliebe. So geziemend. Das ist meine gute Tat für heute, dachte
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