Montags sind die Eichhörnchen traurig: Roman (German Edition)
brauchen, ein bestimmtes Wort, eine Grammatikregel, einen Zugfahrplan. Ganz beiläufig begann sie und lauschte dabei auf Joséphines Stimme, alles klar, Jo? Hast du gut geschlafen? Everything under control? Sie erzählte eine Anekdote aus ihrem Kreuzzug gegen den Zucker, berichtete von ihrer Arbeit mit übergewichtigen Kindern, den Auswirkungen auf das Herz-Kreislauf-System, tat übertrieben empört, lauerte auf die Andeutung eines Lächelns, horchte auf die kleine Pause, die ihm vorausgehen würde, auf das Seufzen oder vergnügte Brummen, das aus Joséphines Kehle aufstieg …
Redete, erzählte, schweifte immer weiter ab …
Stellte jeden Tag die gleichen Fragen.
Und was ist mit deiner Habilitation? Wann ist die Prüfung? Bist du bereit? Soll ich kommen und dir die Hand halten? Du weißt doch, dass ich kommen würde … Ein Pieps, und ich bin da. Hast du nicht zu viel Lampenfieber? Siebentausend Seiten! My God! Du warst ja fleißig … Vier Stunden dauert die Präsentation! Und Zoé? Schon in der zehnten Klasse! Fast fünfzehn! Geht es ihr gut? Hat sie etwas von ihrem Freund gehört? Wie hieß er noch gleich? Ähm … Der Sohn von …? Gaétan? Er schreibt ihr Mails, er ruft sie an … Armer Junge! Der muss ja ganz schön traumatisiert sein! Und Iphigénie? Ist ihr Gauner von Mann wieder zurück? Immer noch nicht? Und die Kinder? Und was ist mit Monsieur Sandoz, hat er ihr seine Liebe endlich gestanden? Er traut sich nicht? Wenn das so weitergeht, komme ich rüber und verpasse ihm einen Tritt in den Hintern! Worauf wartet dieser Tollpatsch denn noch? Dass ihm Flechten in den Ohren wachsen?
Sie ließ ihre Stimme dröhnen, grollte die Verben, türmte Frage auf Frage, damit Jo aus ihrem Schweigen herausfand und in ein glockenhelles Lachen ausbrach.
Hast du Neuigkeiten von Marcel und Josiane? Ah … Er schickt dir Blumen, sie ruft dich an … Sie mögen dich sehr, weißt du? Du solltest dich mit ihnen treffen. Du hast keine Lust … Wieso nicht?
… weil
Und Garibaldi, der schöne Inspecteur, hast du den wiedergesehen? Immer noch auf seinem Posten? Dann bist du ja bestens bewacht! Und Pinarelli junior? Wohnt immer noch bei seiner Mama? Ist der womöglich schwul? Und der lüsterne Monsieur Merson? Und die kurvenreiche Madame Merson?
Und sag, die Wohnungen der beiden … äh … wohnt da schon wieder jemand? Kennst du die Neuen? Noch nicht … Ihr begegnet euch im Flur, aber du redest nicht mit ihnen … Die von … steht noch leer … Kein Wunder … Ich verstehe dich ja, meine Jo, aber du musst dich zwingen, vor die Tür zu gehen … Du kannst nicht dein Leben lang Winterschlaf halten … Warum kommst du mich nicht besuchen? Du kannst nicht wegen deiner Habilitation … Na gut … Aber danach? Komm für ein paar Tage nach London. Du triffst Hortense, du triffst Gary, wir gehen aus, ich nehme dich mit zum Schwimmen in den Hampstead Ponds, mitten in London, es ist fantastisch da, man fühlt sich ins neunzehnte Jahrhundert zurückversetzt, es gibt einen hölzernen Steg, Seerosen, und das Wasser ist eiskalt. Ich fahre jeden Morgen dorthin und fühle mich unglaublich fit … Hey, hörst du mir überhaupt zu?
Wahre Kaskaden von Fragen, um Joséphines schmerzliche Benommenheit zu durchbrechen und die einzige Frage zu verscheuchen, die sie unablässig verfolgte …
Warum?
Warum hat sie sich ins Maul dieses Mannes gestürzt? Dieses kaltblütig mordenden Verrückten, der Frau und Kinder drangsalierte und sie zu seiner Sklavin machte, ehe er ihr Herz durchbohrte?
Meine Schwester, meine große Schwester, mein Idol, meine Schöne, meine Liebste, meine Allerschönste, meine Allerklügste, dein Blut pocht in meinen Schläfen, pocht unter meiner Haut …
Warum, flehte Joséphine, warum?
… weil
antwortete eine Stimme, die sie nicht kannte.
… weil
Weil sie geglaubt hatte, in diesem Pakt ihr Glück zu finden. Sie gab sich ihm hin, ohne Berechnung, ohne Einschränkung, und er versprach ihr dafür alles Glück dieser Welt. Sie hatte daran geglaubt. Sie war glücklich gestorben, so glücklich …
Wie sie es nie zuvor gewesen war.
Warum?
Sie kam einfach nicht heraus aus diesem Wort, das nicht lockerließ, immer weitere glühende Fragen nach sich zog, hohe Wände errichtete, gegen die sie prallte.
Und warum bin ich noch am Leben?
Denn wie es scheint, bin ich ja noch am Leben …
Shirley gab nicht auf. Sie streckte ihre Arme, ihr Herz über die Themse, über den Ärmelkanal und schimpfte: »Du hörst mir gar nicht zu
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