Montgomery & Stapleton 04 - Der Experte
lediglich ein Sofa, einen Sessel, ein aus Backsteinen und Holzbrettern konstruiertes Bücherregal und ein paar kleine Beistelltische gab. An den Wänden hingen weder Bilder noch Fotos. Neben dem Sofa, auf dem Jack offenbar gesessen und gelesen hatte, brannte eine Stehlampe. Der Rest des Raums lag im Dunkeln. Auf einem der Beistelltische stand eine geöffnete Flasche Bier. Auf dem Fußboden lag ein aufgeschlagenes Medizinlexikon.
Ein paar Sekunden später kam Jack zurück. Er stopfte sich im Gehen sein Hemd in die Khaki-Shorts und sah aus, als ob er sich entschuldigen wollte.
»Ich hoffe, ich störe nicht«, sagte Laurie. »Es ist schon ziemlich spät.«
»Du störst überhaupt nicht«, versicherte Jack. »Im Gegenteil. Ich freue mich über deinen Überraschungsbesuch. Soll ich deinen Mantel aufhängen?«
»Ja, bitte«, erwiderte Laurie. Sie zog ihn aus und reichte ihn Jack, der schnurstracks zur Garderobe eilte.
»Möchtest du ein Bier?« fragte er, während er nach einem Bügel suchte.
»Nein, danke«, sagte Laurie artig und nahm auf dem ausgefransten und ramponierten Polstersessel Platz. Dann ließ sie ihren Blick durch den Raum schweifen. Sie wußte, was Jack dazu bewog, in derart bescheidenen räumlichen Verhältnissen zu leben, und dieses Wissen deprimierte sie in ihrer ohnehin schon bedrückten Stimmung noch zusätzlich. Vor acht Jahren war seine Familie bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Laurie wünschte sich oft, er würde sich endlich wieder frei genug fühlen, sein Leben zu genießen.
»Kann ich dir irgend etwas anderes anbieten?« fragte Jack und blieb im Lichtstrahl der Stehlampe stehen. »Wasser, Tee oder Saft? Ich habe sogar Gatorade.«
»Danke, ich möchte wirklich nichts«, wiederholte Laurie. »Ich komme gerade aus einem Restaurant.«
»Aha«, entgegnete Jack und ließ sich auf dem Sofa nieder.
»Hoffentlich macht es dir wirklich nichts aus, daß ich dich so überfalle«, sagte Laurie. »Ich war in einem Restaurant an der Columbus Avenue, also nicht weit von hier, in der Nähe des Naturkundemuseums.«
»Ich freue mich, daß du da bist«, beteuerte Jack. »Von Herzen!«
»Und da dachte ich, daß ich ja kurz bei dir vorbeischauen könnte«, fahr Laurie fort. »Wo ich doch schon fast vor deiner Tür war.«
»Es ist echt okay«, wiederholte Jack. »Ehrlich. Du störst überhaupt nicht.«
»Danke«, flüsterte Laurie.
»Ist beim Essen irgendwas passiert?« fragte Jack.
»Ja«, gestand Laurie. »Es gab ein paar Unstimmigkeiten.«
»Tut mir leid«, Jack ahnte etwas. »Wegen der Dinge, die Lou und ich dir heute nachmittag erzählt haben?«
»Damit hatte es auch zu tun.«
»Willst du darüber reden?«
»Nicht unbedingt«, wehrte Laurie ab. »Das klingt nicht ganz logisch, ich weiß. Schließlich bin ich extra hergekommen, anstatt nach Hause zu fahren und in Ruhe nachzudenken.«
»Ist doch kein Problem. Niemand zwingt dich, über etwas zu reden, über das du nicht reden willst.«
Laurie nickte.
Jack wußte nicht, ob sie einigermaßen okay war oder kurz davor, in Tränen auszubrechen.
»Reden wir lieber über dich«, beendete Laurie das Schweigen. »Über mich?« fragte Jack ein wenig besorgt.
»Ich habe gehört, daß Warren Wilson heute im Institut war«, erläuterte Laurie. »Was wollte er?«
Laurie kannte Warren gut und wußte, daß er der Leichenhalle noch nie einen Besuch abgestattet hatte. Vor einigen Jahren, als Jack und sie noch mehr Zeit miteinander verbrachten, waren sie oft mit Warren und seiner Freundin Natalie Adams ausgegangen. Sie hatten sogar einen gemeinsamen Abenteuer-Trip nach Äquatorialafrika unternommen. »Kennst du Flash Thomas?« fragte Jack.
Laurie schüttelte den Kopf. »Nicht, daß ich wüßte.«
»Er gehört zur Stammbesetzung auf dem Basketballplatz«, erklärte Jack. »Seine Schwester ist in der vergangenen Nacht plötzlich und aus unerklärlichen Gründen gestorben.«
»Wie furchtbar«, entgegnete Laurie. »Wollten die beiden, daß du sie obduzierst?«
Jack nickte. »Willst du die ganze Geschichte hören?«
»Gerne«, erwiderte Laurie. »Aber bevor du loslegst, kannst du mir vielleicht doch etwas zu trinken holen. Ich hätte gern ein Glas Wasser.«
Jack ging in die Küche und begann von seinem aufregenden Nachmittag zu erzählen. Laurie lehnte sich zurück und war sofort ganz Ohr. Als sie von den Eskapaden ihres Kollegen Randolph Sanders hörte, war sie empört. »Was für eine Frechheit, die Leiche einfach abholen zu lassen!« erregte
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