Montgomery & Stapleton 08 - Die Hand des Bösen
Succinylcholin zu stecken, eines sehr schnell wirkenden Lähmungsgiftes ähnlich dem Curare, dem berühmten Pfeilgift der Amazonasindianer. Normalerweise hatte sie keine Probleme damit, eine solche Spritze aufzuziehen. Veena war Krankenschwester und hatte vor drei Monaten ihr Examen am berühmten Krankenhaus des All India Institute of Medical Sciences bestanden. Im Anschluss an ihre Abschlussprüfung war sie von einem US-amerikanischen Unternehmen namens Nurses International angestellt und nach einer speziellen Zusatzausbildung an das Queen Victoria Hospital ausgeliehen worden.
Da Veena sich auf keinen Fall selbst stechen wollte – das hätte leicht einen tödlichen Ausgang nehmen können –, ließ sie für einen kurzen Augenblick die Arme sinken und versuchte, sich zu entspannen. Sie war ein einziges Nervenbündel. Sie wusste wirklich nicht, ob sie ihrer Aufgabe tatsächlich gewachsen war. Sie konnte eigentlich kaum glauben, dass sie sich dazu überreden lassen hatte. Sie sollte die Spritze füllen, damit in Maria Hernandez’ Zimmer gehen, die nach ihrer Hüftoperation vom heutigen Vormittag hoffentlich noch unter den Nachwirkungen der Narkose stand und schlief, den Inhalt der Spritze in deren Infusionsschlauch injizieren und sich dann schnellstens zurückziehen, und zwar, ohne gesehen zu werden. Veena wusste, dass es außerordentlich unwahrscheinlich war, auf einem fast voll belegten Krankenhausflur nicht gesehen zu werden. Deshalb hatte sie auch die herkömmliche weiße Schwesternkleidung, die sie schon den ganzen Tag lang getragen hatte, noch nicht abgelegt. Sie hoffte, dass sich dadurch niemand über ihren Anblick wunderte, obwohl sie ja eigentlich keine Spätschicht hatte.
Veena versuchte, sich ein wenig zu sammeln, schloss die Augen und wurde im gleichen Augenblick vier Monate in die Vergangenheit katapultiert, zurück zu jenem Zeitpunkt, als ihr Vater sie das letzte Mal bedroht hatte. Sie waren zu Hause gewesen, seine Eltern im Wohnzimmer, ihre Mom war im Krankenhaus, und ihre Schwestern genossen draußen den freien Samstag mit ihren Freunden. Da hatte er sie vollkommen unerwartet im Badezimmer in eine Ecke gedrängt. Während im Nebenzimmer der Fernseher dröhnte, fing er an, sie anzubrüllen und zu verfluchen. Er verstand es, seine Schläge so geschickt zu platzieren, dass sie auf ihrem Gesicht keine Spuren hinterließen. Sein Zorn kam unerwartet, wie ein plötzlicher Vulkanausbruch, und Veena musste ihre ganze Kraft aufbieten, um nicht loszuschreien. Da es seit über einem Jahr nicht mehr passiert war, hatte sie gedacht, das Problem hätte sich von selbst erledigt. Aber jetzt wusste sie, dass es sich niemals erledigen würde. Wenn sie sich aus den Fängen ihres Vaters befreien wollte, dann hatte sie nur eine Wahl: Sie musste Indien verlassen. Aber sie hatte Angst um ihre Schwestern. Sie wusste, dass er sich nicht beherrschen konnte. Wenn sie von zu Hause wegging, dann würde er sich garantiert eine andere suchen, und das ganze Drama würde wieder von vorne anfangen. Diese Vorstellung konnte sie nicht ertragen.
Ein unvermitteltes metallisches Klirren holte Veena zurück in die Gegenwart. Das Herz blieb ihr stehen. In fieberhafter Eile stopfte sie das Reagenzglas und die Spritze in eine Schublade mit Infusionsnadeln. Die helle Deckenbeleuchtung im Hauptflur des Operationstraktes ging an. Mit klopfendem Herzen trat Veena an das kleine Drahtglasfenster und blickte hindurch. Der Anästhesieraum war abgedunkelt, sodass sie aller Wahrscheinlichkeit nach von draußen nicht zu erkennen war. Jetzt wurde die Tür zum äußeren Flur für einen Augenblick aufgestoßen. Eine Sekunde später tauchten zwei Putzkräfte in Operationskleidung auf. Beide hatten einen Mopp in der Hand. Sie schnappten sich die leeren Eimer, die sie vor wenigen Sekunden auf den Boden gestellt hatten, und gingen, kaum einen Meter von Veena entfernt, den Flur entlang.
Erleichtert, dass es nur das Reinigungspersonal war, wandte Veena sich zurück in den Raum und nahm das Reagenzglas und die Spritze wieder an sich. Ihre Nervosität war jetzt jedoch noch größer geworden. Das unerwartete Auftauchen der Putzmänner hatte ihr noch einmal bewusst gemacht, wie leicht sie im OP entdeckt werden konnte und wie schwierig es sein würde, ihre Anwesenheit zu erklären. Das Zittern hatte sich ebenfalls verstärkt, aber sie riss sich zusammen und schaffte es schließlich, die Nadelspitze in die Ampulle zu dirigieren. Sie zog am Kolben und füllte die
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