Moon
Sie senkte den Blick und betrachtete die klar umrissenen, gerundeten Würfel, die sie leicht in ihrem Glas herumschwenkte, als enthielten sie eine wichtige Botschaft... etwas Bedeutungsvolles. Von den benachbarten Tischen wehten Bruchstücke von Unterhaltungen herüber und gelegentlich ein leises Lachen. Ein Flugzeug legte sich über der Westspitze der Insel in eine weite Kurve. Nur Sekunden nach dem Start von dem winzigen Flughafen war es bereits über dem Meer; die Sonne hatte sich rot verfärbt, und ihre Strahlen berührten die Tragflächen. Eine milde Abendbrise erfaßte
eine Locke ganz dicht an Amys Wange.
»Eigentlich müßte ich jetzt gehen«, sagte sie nach einer Weile.
Aber sie waren sich beide klar darüber, was sie wirklich wollten.
Childes sagte: »Ich fahre dich nach La Roche zurück, zu deinem Wagen.«
Sie tranken aus und standen gleichzeitig auf. Als sie durch den Garten und auf das weiße Tor zugingen, hinter dem der Parkplatz lag, schob sie ihre Hand in die seine. Er drückte ihre Finger, und sie erwiderte den Druck.
Im Wagen beugte sich Amy zu ihm herüber und küßte ihn auf die Lippen, und da war eine unbeschreibliche Sehnsucht in ihm, die von ihrer Zärtlichkeit abgekühlt und zugleich erhitzt wurde. Dieses Gefühl war für beide so paradox wie der Kuß: er stärkte und schwächte zugleich. Als sie sich trennten, atemlos, mit dem Wunsch nach mehr, zogen seine Fingerspitzen eine sanfte Bahn über ihre Wange, streiften ihre Lippen und wurden feucht. Er wußte, daß ihre Beziehung gerade eben ganz unerwartet und verwirrend einen neuen Höhepunkt erreicht hatte. Sie hatte sich langsam entwickelt, ganz allmählich, weil jeder von ihnen vor dem anderen auf der Hut gewesen war; er hatte Angst davor gehabt, zuviel zu geben, und sie war ihm, dem Fremden gegenüber, vorsichtig gewesen... Er war anders als jeder andere Mann, den sie kannte. Und jetzt sah es so aus, als hätten sie gerade einen Punkt überschritten, an dem es nur eine nachhaltig schmerzhafte Umkehr geben konnte, und beide erkannten die unerbittliche und doch ganz sinnliche Wahrheit dessen.
Er wandte sich ab; er war nicht vorbereitet gewesen auf diese neue, sich überstürzende Veränderung der
Gefühle, er verstand nicht, warum, wie es hatte so schnell geschehen können. Er drehte den Zündschlüssel, legte den ersten Gang ein und fuhr los; den schmalen Weg entlang, der von dem Hotel wegführte.
Childes stieß die Haustür auf und blieb für einen Moment in dem kleinen Flur stehen - er wollte seine Gedanken sammeln, wollte zu Atem kommen. Er schloß die Tür hinter sich.
Amys Gegenwart war noch so stark, schwebte in der Luft, und er staunte wieder über das erschreckende Tempo, das ihre Gefühle füreinander an den Tag legten. Er hatte seine Gefühle so lange im Zaum gehalten, hatte ihre Gesellschaft genossen - all ihre Eigenschaften hatten ihm Vergnügungen bereitet, ihre Reife, ihre Unschuld, nicht zuletzt ihre körperliche Schönheit, und immer war er sich darüber im klaren gewesen, daß ihre Beziehung mehr war als nur Freundschaft, aber dieses Mehr war immer unter Kontrolle gewesen, festgehalten; er hatte sich nichts Tiefergehendem unterwerfen wollen. Die Wunden, die er aus seiner kaputtgegangenen Ehe davongetragen hatte, waren noch nicht völlig verheilt. Das Gefühl der Bitterkeit hatte sich gehalten.
Er konnte nicht anders, er mußte lächeln. Er fühlte sich, als wäre er von einer unsichtbaren Keule getroffen worden.
Das Klingeln des Telefons ließ ihn zusammenzucken. Childes entfernte sich von der Tür und nahm den Hörer ab.
»Jon?« Sie hörte sich atemlos an.
»Ja, Amy.«
»Was ist passiert?«
Er antwortete nicht gleich.
»Du auch?«
»Ich fühle mich wunderbar und schrecklich zugleich. Es ist wie ein... wie ein erregender Schmerz.«
Er lachte über diese Beschreibung, weil er merkte, wie treffend sie war. »Ich glaube, ich müßte jetzt sagen, das wird vergehen, aber das will ich nicht.«
»Es ist unheimlich. Und es gefällt mir.«
Er konnte ihre Unsicherheit spüren, und ihre Stimme war gefaßt, als sie hinzufügte: »Ich will nicht verletzt werden.«
Er schloß die Augen und lehnte sich an die Wand zurück und kämpfte gegen die eigenen Gefühle. »Geben wir einander Zeit zum Nachdenken.«
»Ich will nicht.«
»Vielleicht ist es besser für uns beide.«
»Warum? Können wir noch mehr voneinander erfahren? Ich meine, etwas Wichtiges? Wir haben miteinander geredet, du hast mir von dir erzählt, von
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