Moor
eine der Hauchjunge, die andere das Glasknochenmädchen, das auf eine unerklärliche Art und Weise mit dir verbunden schien, und auch jetzt wird sie aus ihrer Bankreihe links außen zusehen, wie du das Schulhaus, ja, die ganze Welt niederschreist, sie wird einfach nur dasitzen und dich anschauen, ohne Lob oder Tadel, mit diesem blau entzündeten, beunruhigenden Blick, der Bescheid weiß.
Später, wenn der Schülerpulk mit Ohrensausen den Raum verlassen und dir Gorbach wortlos eine Eins eingetragen hat, trippelt sie über den Korridor davon. Du überholst sie, hältst ihr die schwere Zwischentür auf, und der Satz, der sie zu einem Gang durchs Moor einlädt, kommt dir leicht über die Lippen, weil sie, wenn du sprichst, nicht wegschaut wie alle anderen. Sie hat noch nicht geantwortet, da siehst du im Spiegel der Glasscheibe Hannes Lambert, den hochaufgeschossenen Sechzehnjährigen mit eckigem Schädel und blonder Haarmatte vor den Augen, die unruhig umherwandern, wenn er raubtierhaft und stets gefolgt von einer Clique Oberklässler über den Korridor stolziert und die Herumstehenden unwillkürlich zurückweichen. Er kommt auf dich zu, sein Blick schert nicht aus, ist auf einen halben Meter Entfernung wie ein scharfer grüner Strahl, der dir in die Stirn dringt. Du glaubst, es liegt an den ein wenig zu eng beieinanderstehenden Augen, dass er im letzten Moment doch knapp an dir vorbeischaut. Er knackt mit dem Kaugummi und schlägt dir die Tür aus der Hand. Als Ältester der vier vom Bauern Lambert muss er nachmittags im Stall mit anpacken, im Gegensatz zum Knecht riecht er aber nie nach Schwein, oder hast du, immer wenn er dich streifte, die Luft angehalten, aus Angst, sein Geruch könnte ein noch ganz anderer sein?
Jetzt saugst du ihn ein, doch er ist schon vorüber, zwischen den Brauen bleibt ein Gefühl von Kälte, als wäre dort, wo sein Blick dich traf, plötzlich ein Loch. Tanja steht drüben am schwarzen Brett bei den Mädchen. Die Hannesmeute zieht durch die Tür, die Görenschar schnattert und macht ihren Füchsen schöne Augen, nur Tanja blickt weg zu den Aushängen und, als das Rudel um die Ecke ist, noch einmal zu dir hin. Doch statt ihres Gesichts siehst du plötzlich David Voss. K-k-kotzen, würgt er, verdreht die Augen, zuckt mit dem Kopf und rotzt dir auf den Schuh. K-k-kacken, äfft Hinrich ihn nach und furzt. Sie packen dich beide und drücken dich in den Gestank. Jemand zieht dir die Beine weg, du schmeckst die Borsten des faserigen Bodenbelags. Noch lange hörst du das Geknatter ihrer Spottlaute im Gebäude. Irgendwann hebst du den Kopf und suchst Hilfe bei Tanja, doch da ist niemand mehr.
Auch Marga ist weg. Du springst auf, wirfst den Schirm hin, er rutscht in den Teich. Mama!, rufst du, die Panik hat keine Kanten, dein Schrei ist glatt und geschliffen wie ein Geschoss. Eine Krickente schreckt auf und fliegt ins Moor, aus der Ferne tönt ihr Gelächter. Du rennst in die Binsen, stehst starr, sinkst ein, siehst unterm Ast nichts als die Tiefe. Der Schmerz, sie aus den Augen gelassen, für immer verloren zu haben, ist wie ein Schnitt durch deinen Körper. Du reißt dich los und stolperst von Erle zu Erle. Die Bäume spielen deine Angst hin und her, stoßen sie weg und fangen sie auf, jeder Stamm zeigt dir vom Teich ein anderes Bild, mal ist er Pfütze, mal tobendes Meer, erst Höllenschlund, dann gleißendes Licht, in das du eintauchst und fällst. Im Sturz siehst du unter dir das verlassene Haus, die offene Verandatür, die Wäsche an der Leine, auf dem Tisch den Aschenbecher, den sie stets zu leeren vergisst, bis der Wind die Kippen zerstreut. Dort die Scheune, das gekittete Fenster, die Löcher im Dach, du weißt nicht, wie man das repariert und wohin das Gerümpel bringen, ihre Bilder, wo, wenn sie tot ist, den Sarg bestellen, wen anrufen, wer soll neben dir stehen am Grab, dich stützen, wenn du die Rose hinabwirfst, doch Rosen, fällt dir ein, hat sie schon immer gehasst und mit dir einmal heimlich Terpentin an die Stöcke von Ilse Bloch gegossen.
Du rennst zum Baumstumpf zurück, hoffst, sie nur verpasst, im Strauchgewirr übersehen zu haben, siehst schon ihren Schatten im Wasser aufsteigen und legst dir Worte der Reue und Treue zurecht, doch der Teich bleibt glatt und hart, ein Spiegel. Bis zu den Knien brichst du ein. Der Torf quillt dir in die Schuhe, ein weiches, beinahe tröstliches Gefühl. Aus flehenden Augen starrst du hinüber zum Ast mit dem schweigenden Wasser darunter, noch
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