MoR 01 - Die Macht und die Liebe
Wohnzimmer stehen. Sie wischte sich das Gesicht mit einem Taschentuch ab und goß sich den dritten Becher Wein ein.
Sulla sah seine Kinder das erste Mal, als er vorsichtig durch das offene Fenster des Kinderzimmers lugte. Sie bemerkten ihn nicht. Er hörte die murmelnde Stimme einer Frau, doch sie war im hinteren Teil des Zimmers, unsichtbar für ihn. Sein Blick hing an den beiden kleinen Menschen, die er gezeugt hatte. Ein Mädchen - ja, sie mußte jetzt zweieinhalb sein - beugte sich über einen kleinen Jungen - er mußte anderthalb sein!
Das Mädchen war bezaubernd, das hübscheste kleine Püppchen, das er je gesehen hatte. Unter einer Masse rotgoldener Locken war ein kleines Gesicht mit einer Haut wie aus Milch und Honig zu erkennen. Die roten Wangen hatten Grübchen, unter den sanften, rotgoldenen Augenbrauen leuchteten riesige blaue Augen und strahlten glücklich und voller Liebe auf den kleinen Bruder hinunter.
Von seinem Sohn, den er noch nie gesehen hatte, war Sulla noch mehr hingerissen. Er lief - das war gut! - ohne einen Faden am Leib im Zimmer herum, und seine Schwester schimpfte deshalb mit ihm. Er konnte schon ein wenig brabbeln und teilte ebenso gut aus wie die Schwester, der kleine Schlingel! Und er lachte. Er sah aus wie ein Caesar - das gleiche längliche, hübsche Gesicht, das gleiche dichte, goldene Haar, die gleichen lebhaften, blauen Augen wie Sullas verstorbener Schwiegervater.
Das schlummernde Herz von Lucius Cornelius Sulla erwachte nicht langsam, mit einem müden Räkeln und Gähnen, es sprang in eine Welt voller Gefühle, wie Athene in voller Rüstung aus der Stirn von Zeus gesprungen war, mit schallenden Fanfarenklängen. Er kniete an der Tür nieder und streckte mit glänzenden Augen seine Arme nach ihnen aus.
»Tata ist hier«, sagte er. »Tata ist nach Hause gekommen.«
Die Kinder zögerten keine Sekunde, geschweige denn, daß sie zurückgeschreckt wären. Sie rannten in seine Arme und bedeckten sein strahlendes Gesicht mit Küssen.
Publius Rutilius Rufus war nicht der erste, der Marius in Cumae besuchte. Der heimgekehrte Held hatte sich kaum eingelebt, als sein Verwalter ihn fragte, ob er den edlen Lucius Marcius Philippus zu ihm vorlassen dürfe. Marius war neugierig, was Philippus wohl von ihm wollte - er war ihm noch nie persönlich begegnet und kannte die Familie nur sehr oberflächlich -, und so wies er den Verwalter an, Philippus in sein Arbeitszimmer zu führen.
Philippus redete nicht lange um den heißen Brei herum, sondern kam sofort zur Sache. Ziemlich weichlich, dachte Marius, Doppelkinn und zuviel schlaffes Fleisch um den Bauch. Aber er trat mit einer Selbstsicherheit und Arroganz auf, die für die ganze Sippe typisch waren. Immerhin behaupteten sie, Nachfahren von Ancus Marcius zu sein, dem vierten König von Rom, dem Erbauer der großen hölzernen Brücke.
»Wir kennen uns noch nicht, Gaius Marius«, sagte Philippus. Seine dunkelbraunen Augen schauten direkt in die Augen von Marius. »Ich wollte die Gelegenheit nutzen und diesem Versäumnis abhelfen. Du wirst aller Voraussicht nach der Konsul des nächsten Jahres, ich bin einer der neugewählten Volkstribunen.«
»Wie nett von dir, daß du dieses Versäumnis nachholen willst«, erwiderte Marius und lächelte offen, frei von Ironie.
»Ich stimme dir zu«, sagte Philippus unverbindlich. Er lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. Marius hatte diese Pose schon immer unmännlich gefunden.
»Was kann ich für dich tun, Lucius Marcius?«
»Nun, eine ganze Menge.« Philippus beugte den Kopf vor, sein Gesicht verlor auf einmal den weichen Ausdruck und wurde ausgesprochen energisch. »Ich befinde mich zur Zeit in einer etwas angespannten finanziellen Lage, Gaius Marius. Darum erwäge ich, dir meinen - sollen wir sagen, Dienst? - meinen Dienst als Volkstribun anzubieten. Ich frage mich, ob es nicht eine kleine Gesetzesänderung gibt, die du gerne durchsetzen würdest. Oder vielleicht möchtest du auch nur die Gewißheit, einen loyalen Anhänger unter den Volkstribunen zu haben, der dir in Rom den Rücken stärkt, während du den germanischen Wolf von unserer Türschwelle jagst. Diese dummen Germanen! Sie haben immer noch nicht eingesehen, daß eigentlich Rom der Wolf ist. Aber das werden sie schon noch lernen, da bin ich sicher. Wenn irgend jemand ihnen klarmachen kann, wie gefährlich Rom ist, dann du, Gaius Marius.«
Während dieser Rede waren Marius tausend Gedanken in rasender Schnelligkeit
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