MoR 01 - Die Macht und die Liebe
noch immer nicht begriffen, und das war ein Zeichen der großen Distanz zwischen ihnen.
Marius war unbehaglich zumute, wenn er daran dachte, was er Grania antun wollte - obgleich seine Zuneigung zu ihr gering war. Er fühlte sich ihr gegenüber stets schuldig, denn er wußte, daß sie von ihrer Ehe ein glückliches Leben mit Kindern und gemeinsamen Mahlzeiten erwartet hatte. Arpinum hätte das Zentrum ihres Lebens sein sollen, mit häufigen Ausflügen nach Puteoli und vielleicht jeden September einem zweiwöchigen Urlaub in Rom während der ludi romani .
Grania hatte Marius völlig kalt gelassen, als er sie das erste Mal sah, und sogar noch, als er das erste Mal mit ihr schlief. Er konnte sich nicht dazu überwinden, Zuneigung oder gar Verlangen auch nur vorzutäuschen. Dabei war Grania nicht häßlich. Ihr rundliches Gesicht sah recht hübsch aus, sie hatte große Augen und einen kleinen Mund mit vollen Lippen. Jemand hatte Marius sogar einmal gesagt, sie sei schön. Grania war auch nicht streitsüchtig, im Gegenteil, sie wollte ihm auf jede mögliche Weise gefallen. Das Problem bestand darin, daß sie ihm einfach nicht gefiel, er wußte selbst nicht warum, auch wenn sie seinen Becher mit einem Aphrodisiakum gefüllt oder einen der neuerdings beliebten Kurse für erotische Tänze besucht hätte.
In den ersten fünfzehn Jahren ihrer Ehe hatte sie sich große Mühe gegeben, ihre Figur zu behalten, die wirklich nicht schlecht war - sie hatte volle Brüste, eine schmale Taille und kurvige Hüften. Sie bürstete ihr dunkles Haar nach der Wäsche in der Sonne, bis es einen rötlichen Schimmer bekam, zog ihre sanften braunen Augen mit schwarzem stibium nach und achtete darauf, jeden Geruch von Schweiß oder Menstruation zu vermeiden.
Als Marius an diesem Abend im frühen Januar nach Hause kam, hatte er sich verändert: Er hatte endlich eine Frau gefunden, die ihm gefiel, und er freute sich auf die Ehe, auf ein gemeinsames Leben mit ihr. Grania war prosaisch, ungebildet, häuslich und strotzte vor Gesundheit, die ideale Frau eines Landadligen. Julia dagegen war eine echte Aristokratin und majestätische Erscheinung, hochgebildet und politisch interessiert, die ideale Frau eines römischen Konsuls. Bei seiner Verlobung mit Grania hatte seine Familie angenommen, daß er das Leben eines Landadligen führen würde, aber Gaius Marius war ein Adler, der aus dem Käfig der arpinischen Familie ausbrechen wollte. Er hatte es weit gebracht und war entschlossen, noch höher aufzusteigen, besonders jetzt, nachdem ihm eine Julia aus dem Patriziergeschlecht der Julier versprochen worden war. Das war die Frau, die er sich gewünscht hatte. Das war die Frau, die er brauchte.
»Grania!« Er ließ die schwere Toga auf den prächtigen Mosaikboden des Atriums gleiten und trat darüber hinweg, bevor noch ein Diener herbeieilen und sie ihm abnehmen konnte.
»Ja, Liebster?« Sie eilte ihm aus ihrem Zimmer entgegen, und hinter ihr fielen Nadeln, Broschen und Krümel zu Boden. Sie war füllig geworden, viel zu füllig, denn sie tröstete sich mit zu vielen Süßigkeiten und Feigen über ihre bittere Einsamkeit hinweg.
»Im tablinum , bitte«, sagte er über die Schulter und marschierte voraus.
Sie trippelte hinter ihm her.
»Schließ die Tür«, sagte er und ließ sich auf seinem Lieblingsstuhl hinter dem großen Schreibtisch nieder. Grania mußte wie ein Klient auf der anderen Seite der in Gold gefaßten Tischplatte aus poliertem Malachit Platz nehmen.
»Ja, Liebster?« fragte sie noch einmal arglos. Er hatte sich ihr gegenüber nie absichtlich roh verhalten, und abgesehen davon, daß er sie vernachlässigte, hatte er sie nie schlecht behandelt.
Marius legte die Stirn in Falten, seine Hände spielten mit einem Abakus aus Elfenbein. Grania hatte diese Hände immer geliebt, denn sie waren feingliedrig und stark zugleich, mit breiten Handflächen und langen Fingern. Sie legte den Kopf auf die Seite und sah ihn an - ihn, den Fremden, mit dem sie seit fünfundzwanzig Jahren verheiratet war. Ein gutaussehender Mann, lautete auch jetzt ihr Urteil, und sie stand damit keineswegs allein. Liebte sie ihn noch immer? Nach fünfundzwanzig Jahren glichen ihre Gefühle für ihn einem komplizierten Gewebe ohne jegliches Muster: Wut, Schmerz, Verwirrung, Abneigung, Trauer, Selbstmitleid - oh, so viele Gefühle! Grania war jetzt fünfundvierzig Jahre alt, und sie menstruierte nur noch unregelmäßig, denn ihr armer, unfruchtbarer Schoß verdorrte. Wenn
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