MoR 01 - Die Macht und die Liebe
Julillas Dienerin dabei ertappt werden, wie sie ihm einen Brief brachte, und Julilla konnte erwischt werden, wie sie ihm einen Brief schrieb. Wie stand er dann da? Wer würde ihm, bei seiner Vergangenheit, glauben, daß er gänzlich unschuldig war und keine Intrige angezettelt hatte? Wenn die Zensoren ihn aber für schuldig befanden, die Tochter eines patrizischen Senators sittlich verdorben zu haben, dann konnte er den Sitz im Senat vergessen. Und er wollte in den Senat.
Am liebsten wäre er von Rom fortgegangen, aber er wagte es nicht. Was würde das Mädchen in seiner Abwesenheit anstellen? Und so ungern er es sich auch eingestand, er brachte es einfach nicht fertig, wegzugehen, solange sie so krank war. Seine Gedanken drehten sich im Kreis. Immer wieder zog er den verwelkten Kranz aus Gras aus seinem Versteck in einem der Ahnenschreine hervor und schaute ihn an. Er kannte sein Ziel, und das dumme Mädchen würde alles kaputtmachen. Und doch hatte mit dem dummen Mädchen und dem Graskranz alles angefangen.
Er dachte sogar an Selbstmord, spielte mit der süßen Phantasie eines leichten Auswegs aus allen Schwierigkeiten, mit dem Traum vom ewigen Schlaf. Doch dann kehrten seine Gedanken unweigerlich zu Julilla zurück. Warum nur? Er liebte sie nicht, er konnte gar nicht lieben. Und doch gab es Zeiten, in denen er nach ihr verlangte, darauf brannte, sie zu beißen und zu küssen und in sie hineinzustoßen, bis sie vor ekstatischem Schmerz aufschreien würde. Zu anderen Zeiten, wenn er schlaflos zwischen seiner Geliebten und seiner Stiefmutter lag, haßte er Julilla abgrundtief, wollte er ihren mageren Hals zwischen seinen Händen spüren und ihre Augen hervorquellen sehen, wenn er den letzten Funken Leben aus ihr herauspreßte. Dann kam wieder ein Brief, und er fragte sich, warum er die Briefe nicht einfach wegwarf oder sie ihrem Vater brachte und der Tortur ein Ende machte. Statt dessen las er jeden Brief ein dutzendmal und steckte ihn dann in den Ahnenschrein zu den anderen.
Aber an seinem Entschluß, sie nicht zu besuchen, hielt er eisern fest.
Der Frühling ging in den Sommer über, der Sommer in die Hundstage des Sextilis. Träge schimmerte der Hundsstern Sirius über dem brütend heißen Rom. Dann, als Silanus zuversichtlich die Rhone hinaufmarschierte, den ungebärdigen Horden der Germanen entgegen, begann es in Mittelitalien zu regnen. Und es hörte gar nicht mehr auf zu regnen. Für die Bewohner des sonnigen Rom war das noch schlimmer als die Hundstage des Sextilis. Auf den Marktplätzen stand knöcheltief das Wasser, das Getreide in den Kornspeichern wurde feucht, das politische Leben war lahmgelegt, Prozesse mußten verschoben werden. Der Tiber stieg so weit an, daß es in einigen öffentlichen Latrinen einen Rückstau gab und Exkremente auf den Straßen herumschwammen. Hohe Mietshäuser stürzten zusammen oder bekamen breite Risse in den Wänden und Fundamenten. Ganz Rom war erkältet, viele alte und schwache Menschen starben an Lungenentzündung, die jungen starben an Kehlkopfdiphterie und Mandelentzündung, Menschen jeden Alters starben an einer rätselhaften Krankheit, die den Körper lähmte. Wer die Krankheit überlebte, behielt einen verkrüppelten Arm oder ein verkrüppeltes Bein zurück.
Clitumna und Nikopolis stritten täglich, und jeden Tag flüsterte Nikopolis Sulla ins Ohr, wie ungeheuer gelegen ihm Stichus’ Tod gekommen sei.
Nach zwei Wochen ununterbrochenen Regens zogen die letzten Wolken nach Osten ab, und die Sonne kam heraus. Rom dampfte. Dampfwölkchen stiegen von den Pflastersteinen und den Dachziegeln auf, die Luft war gesättigt mit Feuchtigkeit. Auf jedem Balkon, in jedem Innenhof und in jedem Fenster der Stadt wurde Wäsche mit Stockflecken ausgebreitet. Schuhe mußten von Schimmelflecken befreit werden, jede Schriftrolle mußte aufgerollt und sorgfältig auf Pilzbefall untersucht werden, Kleidertruhen und Schränke mußten gelüftet werden.
Einen einzigen erfreulichen Aspekt hatte die stinkende Feuchtigkeit: Die Pilze schossen in diesem Jahr üppig wie nie zuvor aus dem Boden, die ganze Stadt schwelgte in Pilzen.
Und Sulla drückten wieder Julillas Briefe auf der Seele, nachdem die zwei Regenwochen wunderbarerweise verhindert hatten, daß Julillas Dienerin ihn aufsuchte und ihm Briefe in die Toga steckte. Sulla spürte, daß er den schwülen Krankheitsherd Rom wenigstens für einen Tag verlassen mußte, wenn er nicht verrückt werden wollte. Metrobius und sein Beschützer
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