MoR 01 - Die Macht und die Liebe
ein gutes Stück vor der steilen Auffahrt nach Tibur. Kurz hinter Rom zog sich ein Wald die Hügel hinauf. Die Straße führte etwa eine Meile quer durch diesen Wald und erreichte dann das üppig grüne, sehr fruchtbare Tal des Anio.
Im Wald war der Boden härter, und hier verließ Sulla die Straße und lenkte die Maultiere auf eine unbefestigte Wagenspur, die zwischen den Bäumen hindurch führte und schließlich auslief.
»Wir sind da«, sagte Sulla und sprang vom Wagen. »Ich weiß, daß es hier nicht besonders schön ist, aber komm ein kleines Stück mit, dann zeige ich dir eine Stelle, für die sich der weite Weg lohnt.«
Er schirrte die Maultiere ab und legte ihnen Fußfesseln an, dann schob er den Wagen vom Weg in den Schatten, hob den Picknickkorb heraus und hievte ihn sich auf die Schulter.
»Woher kennst du dich so gut mit Maultieren und Wagen aus?« fragte Nikopolis, als sie Sulla mit vorsichtigen Schritten durch den Wald folgte.
»Jeder, der im Hafen von Rom gearbeitet hat, kennt sich damit aus«, sagte Sulla über seine freie Schulter. »Laß dir Zeit! Wir gehen nicht weit, und wir haben es nicht eilig.«
Tatsächlich hatten sie noch viel Zeit, denn bis Mittag waren es noch zwei Stunden.
Sie traten auf eine bezaubernde Lichtung hinaus, auf der hohes Gras und spätsommerliche Blumen wuchsen - rosa und weiße Kosmeen, große, blütenübersäte rosa und weiße Heckenrosenbüsche und die hohen Blütenrispen der Lupinen, ebenfalls rosa und weiß. Durch die Lichtung rauschte ein Bach, der vom Regen noch Hochwasser führte. In seinem Bett lagen zerklüftete Felsbrocken. Die Sonne glitzerte auf dem Wasser und sprühte blitzende Funken, Libellen und kleine Vögel spielten im Licht.
»Ach, wie schön!« rief Nikopolis.
»Ich habe die Stelle entdeckt, als ich letztes Jahr ein paar Monate von Rom weg war«, sagte Sulla und setzte den Korb an einem schattigen Platz ab. »Mein Wagen verlor damals genau an der Stelle ein Rad, wo die Wagenspur in den Wald hineinführt, und ich mußte Metrobius auf einem der Maultiere nach Tibur schicken, um Hilfe zu holen. Während ich auf ihn gewartet habe, habe ich die Umgebung erkundet.«
Nikopolis war nicht erfreut, daß Sulla ausgerechnet mit Metrobius das erste Mal an diesem wundervollen Platz gewesen war, aber sie sagte nichts. Sie ließ sich ins Gras fallen und sah zu, wie Sulla einen großen Schlauch Wein aus dem Korb nahm. Er legte den Schlauch an einer Stelle in den Bach, wo ein Ring aus Steinen ihn festhielt, schlüpfte aus seiner Tunika und zog die Stiefel aus. Mehr hatte er nicht an.
Sulla fühlte sich noch immer durch und durch leicht, und dieses Gefühl wärmte ihn ebenso wie die Sonne auf seiner Haut. Er streckte sich lächelnd und sah sich mit einem Entzücken auf der Lichtung um, das nichts mit Metrobius oder mit Nikopolis zu tun hatte. An diesem Ort konnte er sich sagen, daß die Zeit stillstand, daß es keine Politik gab, daß die Menschen nicht in Klassen eingeteilt waren und daß Geld keine Rolle spielte. Die Augenblicke ungetrübten Glücks waren so sparsam auf seinem Lebensweg verteilt gewesen, daß er sich an jeden einzelnen mit schmerzender Klarheit erinnerte: an den Tag, an dem sich das Durcheinander von Schnörkeln auf einem Stück Papier plötzlich zu verständlichen Gedanken geordnet hatte; an die Stunde, in der ein unfaßlich freundlicher und aufmerksamer Mann ihm gezeigt hatte, wie vollkommen ein Liebesakt sein konnte; an das überwältigende Gefühl der Befreiung beim Tode seines Vaters sowie an die Erkenntnis, daß diese Waldlichtung das erste Stück Land war, das er für sich erobert hatte. Das war alles. Die Summe der glücklichen Augenblicke seines Lebens. Keiner dieser Augenblicke hatte mit der Wertschätzung des Schönen oder des Lebens an sich zu tun. Das Glück lag im Lesenkönnen, in der erotischen Lust, in der Freiheit und im Besitz.
Nikopolis betrachtete ihn fasziniert, ohne den Grund für seine Freude auch nur im entferntesten zu erraten. Sie bewunderte seine blendend weiße Haut, das leuchtende Gold seiner Haare auf Kopf, Brust und Scham. Diesem Anblick konnte sie nicht widerstehen. Sie schlüpfte aus ihrem leichten Kleid, löste die lange schwarze Schärpe des Unterhemds, streifte das Hemd ab und war nun ebenfalls nackt.
Sie wateten in einen der tiefen Tümpel hinein, die das Wasser gebildet hatte. Zuerst stockte ihnen der Atem vor Kälte, aber sie vergnügten sich so lange im Wasser, bis ihnen wieder warm wurde. Sulla spielte
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