Moral in Zeiten der Krise
Geschichte mit dieser Erinnerung beginnen.
Begleiter, Analytiker und Chronist der Nachkriegsjugend
Ich gehöre zu den Alten, die immer wieder von Schulen als »Zeitzeugen« eingeladen werden, um von Krieg und Nachkriegszeit zu erzählen. Die Schülerinnen und Schüler hören dann von mir, wie ich als Achtzehnjähriger nach Russland geschickt wurde, um als Richtkanonier auf Russen zu schießen, die ich zuvor in einer kurzen Ruhestellung als freundliche Menschen kennen gelernt hatte. Ich musste tun, was ich nicht wollte, und erfuhr vier Jahre später nach Entlassung aus Gefangenschaft, dass russische Besatzungssoldaten Monate nach Kriegsende meine Eltern erstochen hatten, weil meine Mutter sich gewehrt und mein zweiundsiebzigjähriger Vater sie zu beschützen versucht hatte. Daraufhin wurde ich krank und wäre am liebsten im Krankenhaus geblieben. Aber ich musste mich aufraffen. Ich flickte notdürftig die gerissenen Wände in den zwei erhaltenen Räumen unserer halbzerbombten Sechs-Zimmer-Wohnung in Berlin und erbettelte mir ein Stipendium an der alten Berliner Universität. Ich hatte in Deutschland keine Verwandten. Schulfreunde waren gefallen. Ein Buch war und ist mir immer noch kostbar: Dostojewskis Aus einem Toten Hause . Darin verarbeitet der Dichter seine Verbannungszeit in Sibirien. Er war wegen Rebellion zum Tode verurteilt und auf dem Richtplatz zu vier Jahren Verbannung begnadigt worden. Ich war als desertierter Flüchtling vor Kriegsende mit Glück gerade noch einer SS-Kontrolle entkommen, dann dennoch in Gefangenschaft geraten. Innerlich fühlte ich mich wie in jenem »Toten Hause«.
Eigentlich war ich noch ein Kind, das seine Jugendnicht hatte ausleben können; zugleich ein alter Mann, belastet mit Verantwortung für Unverantwortliches an einer Front des Hasses. Später schrieb ich dann mal ein Buch: Wer nicht leiden will, muss hassen . Das war ein Grundgedanke meiner philosophischen Doktorarbeit, die ich wenige Monate nach meiner Rückkehr begann. Titel: Über den Schmerz . Später wurde mir klar, dass es mir wohl darum ging, meinen eigenen verzweifelten Zustand besser zu verstehen und Rat zu suchen. Zu gleicher Zeit begegnete ich der Frau, mit der ich inzwischen 64 Jahre zusammen bin. Auch sie kam aus einer Familie mit einer Leidensgeschichte. Bergrun war die Lieblingstochter ihres Vaters, den die Nazis zwölf Jahre lang drangsaliert hatten. Als Nazigegner hatte er nach Hitlers Machtübernahme sogleich seine Professur für Philosophie und Pädagogik verloren und war seitdem fortwährend von der Gestapo terrorisiert worden. Seine Ängste überdauerten Hitlers Herrschaftszeit.
Es wurde uns erst später bewusst, aber das Schicksal unserer Eltern wirkte in uns wie eine Botschaft, die unser Engagement bis heute begleitet. Bergrun arbeitete als junge Lehrerin. Auf eigenen Wunsch hatte sie eine Klasse mit Kindern übernommen, die als schwer erziehbar eingestuft worden waren. Solche Sonderklassen gab es damals in Berlin. Bergrun fand, dass solche Kinder besondere Zuwendung verdienten. Gelegentlich unterstützte ich sie, wenn es darum ging, den Kindern in häuslichen Konflikten beizustehen.
Sechs Jahre später. Ich bin 29, junger Arzt, halbfertiger Psychoanalytiker, und werde bereits mit der Leitung einer Beratungs- und Forschungsstelle für seelische Störungen im Kindes- und Jugendalter betraut. Ich arbeitezusammen mit ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen an einem großen Berliner Kinderkrankenhaus und bin dadurch gleich wieder bei der eigenen Geschichte. Inwiefern wirkt in den Störungen der Kinder das nach, was die Eltern an unverarbeiteten Traumen, Schuld, Scham und zerstörten Hoffnungen aus der Hitlerzeit mit sich herumschleppen? Die meisten Eltern schweigen über ihre Vergangenheit in der Hörigkeitsgesellschaft. Aber viel von dem Verschwiegenen drückt sich indirekt über die Symptome bei den Kindern aus: Trotz, Weglaufen, Stottern, Schulversagen und psychosomatische Beschwerden. Es reicht nicht aus, die Eltern erzieherisch zu beraten. Sie brauchen Hilfe, sich mit den eigenen Enttäuschungen und Verbitterungen auszusöhnen, um mit den Kindern verständnisvoller umgehen zu können. So gelangen wir schon in den fünfziger Jahren zum Konzept einer psychoanalytisch orientierten Familientherapie.
Hätte ich nicht schon in der Dissertation über den Schmerz und später in der Lehranalyse an meiner eigenen inneren Beschädigung gearbeitet, wäre ich der neuen Verantwortung kaum gewachsen, nämlich beiden
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