Moral in Zeiten der Krise
offenbart, ob wir nochgut genug sind oder wieder werden können, um die modernen Krisen, die im wesentlichen moralische Krisen sind, zu bestehen.
Daraus habe ich eine Art Motto abgeleitet: »Es gibt eine kreisförmige Wechselbeziehung zwischen Machen und Erkennen. Wenn man nicht macht, was man als notwendig, wenn auch mit persönlichen Unannehmlichkeiten behaftet, erkannt hat, dann kann man irgendwann auch nicht mehr erkennen, was zu machen ist. Wer Anpassungszwängen taktisch nachgibt, wohl wissend, dass er ihnen mit vertretbarem Risiko widerstehen könnte und auch sollte, wird nach und nach die Unzumutbarkeit von Anpassungsforderungen gar nicht mehr wahrnehmen, das heißt die eigene Gefügigkeit auch nicht mehr als Fluchtreaktion durchschauen. Alles erscheint normal: die Verhältnisse, denen er sich ergibt, und der Verzicht auf Gegenwehr, den er eben gar nicht mehr als Verzicht erlebt.«
Diese Maxime ist nicht am Schreibtisch entstanden, auch nicht am Vorlesungspult, sondern zuerst in der therapeutischen Arbeit, später im Kampf an der Seite der emanzipatorischen Reformgruppen und der Friedensbewegung. Langsam wuchs meine Einsicht: Die innere Wiederherstellung nach dem Nazi-Kulturbruch benötigte mehr als die Aufarbeitung der soziologischen Hintergründe. Unerlässlich ist die permanente Vergewisserung der eigenen Standfestigkeit in der laufenden drohenden Vereinnahmung für Unrecht oder Inhumanität. Und das Ertragen der Einsamkeit, wenn Widerständigkeit ringsum auf Unwillen stößt.
Soziale, grüne und Friedensbewegung sind in die Jahre gekommen. Ein biologisches Vorurteil nennt das Nachlassen von Engagement im Alter genauso normal wie körperlichen Kräfteabbau. Tatsächlich haben mancheAlternde ihre Widerstandsenergien verbraucht. Andere haben im Engagement von ihren Gegnern so viel verinnerlicht, dass sie diesen ähnlich geworden sind. Oder sie haben sich in ihrem »Anti« so sehr erschöpft, dass ihnen das »Pro« abhanden gekommen ist. Oder ihr Anti hat sich sogar in der Richtung verkehrt. Diejenigen werden ihnen zum Ärgernis, die so geblieben sind, wie sie selbst einmal waren.
Manche erleiden im Alter aus organischen Gründen eine Schwächung ihrer Geisteskraft. Wem aber die Gnade langer psychischer Gesundheit zuteil wird, kann etwas erfahren, was Freund Josef Weizenbaum und ich bei uns festgestellt haben: Nämlich dass wir gerade in vorgerücktem Alter geneigt wurden, weiter in die Zukunft voraus zu schauen, als wir das früher gewöhnt waren. Das erscheint paradox angesichts der noch zu erwartenden eigenen kurzen Lebensstrecke. Doch diese Erfahrung ist erklärbar. Für Bergrun und mich ist z. B. die Mitverantwortung für die Lebensumstände unserer sechs Enkel und drei Urenkel immer präsent. Genauso wichtig ist die Entlastung von einer Situation, die ich anfangs von Daniel Goedevert in Stichworten habe beschreiben lassen: Entlastung von dem sinnentleerten Hinterherhecheln im Wettlauf bei Schwinden der eigenen Fähigkeit, die Dinge noch mitgestalten zu können.
Im Abstand zu diesem Wettlauf, der die humanistischen Widerstandskräfte ruiniert, kann man in sich etwas Überraschendes erleben. Nämlich dass die Hoffnung auf einen moralischen Aufbruch doch noch da ist. Und dass man diese Hoffnung dadurch bestätigen kann, dass man allen noch so plausiblen pessimistischen Bedenken durch Fortsetzung eigener engagierter optimistischer Praxis widerspricht.
Literaturverzeichnis
Albertus Magnus (2001): Zum Gedenken nach 800 Jahren; Berlin (Akademie Verlag)
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Baur, E.A., Fischer, E. u. Lenz, F. (1921): Die menschliche Erblehre und Rassenhygiene; München, 1. Aufl. 1921, 5. Aufl. 1940
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Descartes, R. (1641): Meditationen über die Grundlagen der Philosophie; Leipzig (Verlag Meiner)
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